Geht es nach den Kandidat:innenlisten, müsste im Nationalrat nach der Wahl am 29. September Geschlechtergleichstand herrschen. Denn so gut wie alle Parteien wenden auf so gut wie allen Ebenen das Reißverschlusssystem (Mann-Frau-Mann-Frau-…) an. Aktuell beträgt der Frauenanteil im Nationalrat 40 Prozent und im Bundesrat fast 47 Prozent.
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Aber spiegelt sich das auch in der politischen Kultur wider? Oder haben es Frauen in der Politik immer noch schwerer als Männer? Die WZ hat sich unter Politikerinnen umgehört. Der Tenor: Vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert, es gibt aber noch ebenso viel zu tun. Und das Problem sind weniger die männlichen Politiker, sondern all die anderen Männer da draußen, die insbesondere im Internet Politikerinnen als Freiwild sehen.
Wer in die Politik geht, darf definitiv nicht wehleidig sein.
Laura Sachslehner, Wiener ÖVP-Abgeordnete
Wie rau der Ton gerade in den Sozialen Medien ist, kann die 30-jährige ÖVP-Politikerin Laura Sachslehner aus eigener Erfahrung berichten. Als Politikerin erlebt sie Anfeindungen von verschiedenen Seiten. Das sei allerdings schon seit Jahren so. „Ich könnte meiner Aufgabe schon lang nicht mehr nachkommen, würde ich das nicht in Kauf nehmen“, meint die Wiener Landtagsabgeordnete. „Wer in die Politik geht, darf definitiv nicht wehleidig sein. Und mit einer klaren Haltung muss man das wohl aushalten können und darf sich davon auch nicht beirren lassen.“
Bezeichnend ist, was die nunmehrige EU-Abgeordnete Anna Stürgkh (30) von den Neos dazu sagt: „Ich finde es schlimm, wenn wir als Gesellschaft so weit kommen, dass wir überhaupt darüber diskutieren, was man als Politikerin aushalten muss.“ Viele Social-Media-Postings gegen sie bekommt sie gar nicht erst zu sehen, weil ihr Team sie vorab löscht. Aber das, was bis zu ihr durchdringt, ist schlimm genug. Bezeichnungen wie „Tussi“ oder „Pupperl“ sind da noch harmlos. „Es ist schon eine mentale Belastung. Und mir haben ein paar Frauen gesagt, dass sie sich das wahrscheinlich nicht antun würden“, erzählt Stürgkh. „Ich hatte auch schon Personen am Wahlkampfstand, die mir erklärt haben, dass Frauen in der Politik nichts verloren hätten.“
„Nicht mit verschränkten Armen am Spielfeldrand stehen“
Wie schwierig das politische Feld für Frauen immer noch ist, weiß auch Kommunikationsberaterin Christina Aumayr. Umso wichtiger findet sie es, dass „die Frauen nicht mit verschränkten Armen an der Seitenlinie stehen und bedauern, dass es so wenige Frauen in der Politik gibt“. Ihre Geschlechtsgenossinnen sollten sich mehr zutrauen, appelliert sie. „Es bräuchte mehr Mut und Engagement seitens der Frauen. Denn in dem Moment, wo das Umfeld diverser – in diesem Fall weiblicher – ist, verändert sich auch der Diskurs.“ Dann wäre es sicher auch leichter, für politische Talkshows weibliche Gäste zu bekommen.
Aumayr ist aber klar: „Die politische Auseinandersetzung ist wettkampforientiert, sie wird prägnant, schlagfertig und sehr schnell geführt. Das ist mitunter sehr sportlich und das muss man wollen. Da braucht es auch eine gewisse Lust an der Konfrontation. Generell verzeiht das politische, mediale Geschäft wenig Fehler, jede Äußerung wird sofort auf die Waagschale gelegt.“ So kam die SPÖ-Bildungssprecherin Petra Tanzler mit ihren eigentlichen Themen in den Medien kaum vor, ehe sie durch eine womöglich unbedachte und unsachliche Äußerung zur Ukraine auffiel, für die sie selbst von der eigenen Parteiführung heftig kritisiert wurde „und dann medial gebrandmarkt war“, wie Aumayr sagt. „Das schreckt ab, aber wer dieser Arena nicht gewachsen ist, sollte sie nicht betreten.“
Fehltritte fallen in der Politik allerdings auch Männern auf den Kopf. „Man stelle sich vor, Harald Vilimsky hätte einer ORF-Moderatorin eine Sex-Affäre mit einem SPÖ-Politiker unterstellt, dann hätte er es auch nicht so lustig gehabt“, meint sie in Anspielung auf die Causa Lena Schilling. Allerdings: Eine WWF-Aktivistin als „Luder“ zu bezeichnen, hat dem Tiroler Vize-Landeshauptmann Josef Geisler (ÖVP) zwar massive Kritik und Rücktrittsforderungen, aber keine ernsthaften Konsequenzen eingebracht. Und Aumayr erinnert an Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel, der einst den deutschen Bundesbankpräsidenten ungestraft als „richtige Sau“ beschimpfte. „Politik ist riskant, ruppig, und das tägliche Social-Media-Gericht ist gnadenlos“, stellt Aumayr fest. „Wer dabei ein dickes Fell hat und Krisen durchtauchen kann, hat gute Karten. Ein klarer inhaltlicher Kompass, ausgeprägte Resilienz und eine Portion intelligenter, aber gerade noch charmanter Verwegenheit sind die besten Voraussetzungen.“
Brave Mädchen, (vor)laute Buben
Die Sozialisierung beider Geschlechter erklärt für Aumayr, warum Frauen hier lang im Nachteil waren. Bis vor wenigen Jahrzehnten galt: Mädchen sollen brav, ruhig und strebsam sein, Buben dürfen laut, kämpferisch und mutig sein. Auf die Politik umgemünzt: „Wenn Männer schlagfertig und angriffig sind, werden sie dafür bewundert – wenn Frauen so agieren, werden sie als Furien abgetan. Leider auch von Frauen.“
Und immer noch werde die Intelligenz von Frauen oft geringgeschätzt, ergänzt Grünen-Politikerin Nina Tomaselli. Oft genug habe sie von älteren Männern den Satz gehört: „Pass auf, das verstehst du nicht, ich erklär dir das jetzt einmal.“ Bei Kolleginnen falle ihr das stärker auf als bei sich selbst, sagt die 39-jährige, die seit 15 Jahren die gleichen, eher männerdominierten Themen bearbeitet, erst auf Gemeindeebene, jetzt im Nationalrat: Finanzen und Wohnbau. „Damals war ich als 24-jährige Frau im Finanzausschuss ein Unicorn unter lauter älteren Herren. Das dürfte heute in ländlichen Gemeinden nicht viel anders sein. Als junge Frau bekommt man definitiv keine Vorschusslorbeeren, sondern wird eher kritisch beäugt.“
Frauen stehen vor Hürden, die Männer nicht haben.
Doris Bures, Zweite Nationalratspräsidentin
Und was sagt die mächtigste Frau im Staat über die Situation von Frauen in der Politik? Doris Bures (62), Zweite Präsidentin des Nationalrats, stellt klar: „Frauen stehen – wie überall in der Gesellschaft – auch in der Politik vor Hürden, die Männer nicht haben.“ Als Beispiel nennt die SPÖ-Politikerin die diversen Repräsentationsaufgaben: „Ein Bürgermeister, der jeden Abend bei Veranstaltungen ist, ist fleißig; bei einer Bürgermeisterin fragt man, warum sie den Abend nicht daheim mit ihren Kindern verbringt.“ Überhaupt erschwert aus ihrer Sicht die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen, etwa die Aufteilung der Care-Arbeit, das politische Engagement von Frauen. Die langjährige ÖVP-Politikerin Maria Rauch-Kallat (75) sieht zudem das Problem, dass sich „politische Abläufe und Strukturen immer noch fast ausschließlich an männlichen Lebenswelten orientieren“. Und auch wenn sich seit ihrem Einstand vor 41 Jahren im Bundesrat vieles für Frauen verbessert habe, „sind wir immer noch weit entfernt von einer tatsächlichen Gleichstellung insbesondere beim Einkommen und den beruflichen Aufstiegschancen beziehungsweise in der Verteilung der unbezahlten familiären Verpflichtungen“.
Es braucht mehr weibliche Vorbilder
Bures glaubt, dass auch der Mangel an politischen Vorbildern Mädchen und junge Frauen davon abschreckt, sich politisch zu engagieren. Umso wichtiger findet sie Frauenquoten, weil Frauen insbesondere „auf Landes- und Gemeindeebene weiterhin unterrepräsentiert sind“. Und auf den bisherigen Erfolgen dürfe man sich nicht ausruhen: „Die politische Beteiligung von Frauen muss wie die Demokratie als Ganzes immer wieder erkämpft und verteidigt werden“, betont Bures. Rauch-Kallat warnt sogar vor Rückschritten: „Ich entdecke seit rund 15 Jahren auch immer wieder Versuche, Gleichstellungsbemühungen zu unterwandern – nach dem Motto: ‚Das Imperium schlägt zurück!‘ Daher ist absolute Wachsamkeit angesagt.“
Neben Hasspostings, die sich Bures’ Erfahrung nach „vor allem gegen Frauen richten“, weshalb Rauch-Kallat endlich die Einführung von Klarnamen und eine konsequente Bestrafung beleidigender Inhalte fordert, sieht Aumayr in den Sozialen Medien noch ein weiteres Problem: Sie ortet einen Backlash, wenn sich etwa junge Frauen im Netz mehr Gedanken über Schönheitsideale als über Politik und gesellschaftsrelevante Themen machen. „Und auch Politikerinnen werden oft auf ihr Äußeres reduziert. Da haben wir noch eine lange Wegstrecke vor uns. Man denke nur an die Diskussionen über Angela Merkels Dekolleté, die Debatte in den USA über das laute Lachen von Kamala Harris oder Annalena Baerbock, die dafür kritisiert wird, dass sie als deutsche Außenministerin eine Visagistin mitnimmt – aber würde sie sich nicht schön herrichten, würde das auch wieder kritisiert. Im Grund kann sie da nur verlieren“, resümiert die Kommunikationsberaterin. „Warum wohl gibt es keine einzige unattraktive TV-Moderatorin?“
Wenn Äußerlichkeiten wichtiger sind als Taten
Dass bei Politikerinnen Äußerlichkeiten wichtiger genommen werden als ihr Handeln, hat auch die Grüne Nina Tomaselli erlebt: „Ich habe nicht nur einmal nach TV-Auftritten E-Mails mit Modetipps bekommen, was mir steht und was nicht. Das hätte ich von männlichen Kollegen noch nie gehört.“ Übergriffige Zuschriften bekommen Frauen tendenziell mehr als Männer, meint sie.
Machen und sich nix gefallen lassen!
Nina Tomaselli, grüne Nationalratsabgeordnete
Sachslehner hat einen großen Wunsch: „Egal, ob Mann oder Frau – am Ende des Tages sollte nicht das Geschlecht, sondern nur die Leistung zählen. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Politik, sondern für unser gesellschaftliches Zusammenleben generell.“ Wenn sich Österreichs Politik in dieser Beziehung ein Vorbild nehmen sollte, dann wäre das Island, meint Tomaselli. „Da habe ich eine ganz andere Selbstverständlichkeit erlebt, was insgesamt die Geschlechterrollen betrifft. Und das aber auch bei Politiker:innen der konservativsten Partei in Island. Da wird die Gleichberechtigung auch von den Männern ganz selbstverständlich mitgetragen und gelebt.“
Aumayr stellt abschließend fest: „Um die Spielregeln zu ändern, müssen die Frauen das Feld selbst bespielen. Sie hätten dabei alle Chancen – sie müssen sie nur nutzen.“ Die Botschaft, die Tomaselli jungen Frauen mit politischen Ambitionen mit auf den Weg gibt, ist kurz und klar: „Machen und sich nix gefallen lassen.“
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Infos und Quellen
Genese
Als er für einen Artikel zur (physischen oder verbalen) Gewalt gegen Politiker:innen recherchierte, bekam WZ-Redakteur Mathias Ziegler einmal mehr zu hören, dass es Frauen insgesamt schwerer in der Politik haben und öfter zum Ziel von Hasspostings in den Sozialen Medien werden. Grund genug, sich dieses Themas in einem eigenen Artikel anzunehmen.
Gesprächspartnerinnen
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Christina Aumayr ist Kommunikationsberaterin und Geschäftsführerin von Freistil-PR.
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Doris Bures (SPÖ) ist Zweite Präsidentin des Nationalrats und Stellvertretende Parteivorsitzende der SPÖ. Davor war sie unter anderem Erste Nationalratspräsidentin und Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie.
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Laura Sachslehner ist ÖVP-Abgeordnete zum Wiener Landtag.
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Nina Tomaselli ist Abgeordnete der Grünen zum Nationalrat.
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Maria Rauch-Kallat war unter anderem Bundesrats- und Wiener Landtagsabgeordnete, Generalsekretärin der ÖVP und in mehreren Bundesregierungen Ministerin für Umwelt, Gesundheit, Jugend, Familie und Frauen.