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Was machen eigentlich Koalitionsverhandler:innen? | Wiener Zeitung

von Max

ÖVP und SPÖ verhandeln über eine gemeinsame Regierung, ein dritter Partner – voraussichtlich Neos – könnte dazukommen. Aber wie laufen solche Gespräche eigentlich ab und was müssen gute Koalitionsverhandler:innen mitbringen?

Sitzfleisch, oder anders gesagt, Durchhaltevermögen: Das ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Koalitionsverhandlungen. Zumindest sagt das Andreas Khol (ÖVP) – und der muss es wissen. Der frühere Nationalratspräsident und VP-Klubchef war bei acht Regierungsverhandlungen dabei. Manchmal bringt aber alles Sitzfleisch nichts: „Wolfgang Schüssel war bekannt für seinen ‚eisernen Hintern‘, er ist einfach nicht aufgestanden, hat gesagt, verhandeln, verhandeln, verhandeln. So war es auch 2002 bei den Verhandlungen über Schwarz-Grün. In der entscheidenden Runde war man bis auf wenige Punkte handelseins, die Invaliditätspension war (neben Budget und Eurofightern, Anm.) ein Thema, bei dem Grünen-Chef Alexander Van der Bellen sagte, da kann er nicht mit. Mehrmals wollte er vom Verhandlungstisch aufstehen, Schüssel hat ihn mit Angeboten wie mehr Budget für Umweltprojekte immer wieder zurückgehalten.“ Handelseins wurde Schüssel dann mit der FPÖ.

Die Rollen haben sich geändert: Van der Bellen ist Bundespräsident, die FPÖ stärkste Kraft. Mit der Regierungsbildung hat das Staatsoberhaupt aber bekanntlich VP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer beauftragt. Was er, SP-Chef Andreas Babler und ihre Sondierungsteams außer Sitzfleisch noch für das Gelingen ihrer Koalitionsgespräche brauchen, hat die WZ mit Khol und einem grünen Abgeordneten, der bei den Verhandlungen mit den Türkisen 2019 dabei war, aber anonym bleiben möchte, besprochen.

Was erfolgreiche Verhandlungen begünstigt

Wichtigste Voraussetzung ist der Wille zum gemeinsamen Ziel, sagen beide. Sei es Budgetsanierung, Wirtschaftswachstum oder Migrationsmanagement – diese gehören klar abgesteckt, und: „Es braucht ein Narrativ, wie man diese Ziele erreichen will. Dabei muss man mit dem Kopf des anderen denken können, kompromissbereit sein und bedenken, dass jeder sein Gesicht wahren muss“, sagt Khol. Der grüne Insider betont, „dass es ein Wollen auf Augenhöhe“ sein müsse, „der gemeinsame Nenner kann nicht sein, dass alle Kickl nicht wollen“.

Bevor es in den Arbeitsgruppen ans Eingemachte geht, muss dieses Wollen auch in den Köpfen der Parteifunktionär:innen ankommen, damit eine Koalition nicht schon vor ihrem Zustandekommen von den eigenen Leuten torpediert wird. Der grüne Insider erinnert sich: „Das war bei uns 2019 auch schwierig, da braucht es viele interne Gespräche. Wir waren in den Ländern unterwegs, um zu erklären, was ist der Mehrwert, wenn wir regieren, was die Konsequenz, wenn nicht.“ Die Konsequenz damals war Schwarz-Blau, diesmal wäre es Blau-Schwarz – der Mehrwert ist umso höher, je mehr eine Partei inhaltlich in der Regierung umsetzen kann.

Die Verhandlungsschritte

Am Beginn aller Koalitionsverhandlungen steht eine Analyse der Wahlprogramme der potenziellen Partner. „Da schaut man sich ganz genau an, wo ist es leicht, einen Konsens zu finden, wo wird es schwer und wo scheint es unmöglich“, erklärt Khol. Diese Knackpunkte, so der grüne Funktionär, „müssen schon in den Sondierungen angesprochen werden, um auszuloten, ob sich das ausgehen kann“. Folgen also auf Sondierungen ernsthafte Verhandlungen, sollten eigentlich kaum unüberbrückbare Hürden vorliegen – aber der Teufel steckt oft im Detail. Um diese geht es in den Arbeitsgruppen – thematisch gegliedert wird über alle Politikbereiche verhandelt. Darüber stehen die aus den Sondierungen bekannten Steuerungsteams.

Wer die Parteilinie in den jeweiligen Arbeitsgruppen vertritt, ist nicht nur eine inhaltliche Entscheidung – natürlich sollten die Verhandler:innen ausreichend Expertise haben – sondern auch eine strategische. „Man schaut darauf, dass Leute, die ein rotes Tuch für die anderen Parteien sind, nicht Teil der Arbeitsgruppe sind“, sagt Khol. Wie wichtig die zwischenmenschliche Komponente ist, bestätigt der grüne Funktionär: „Wenn sich die Verhandlungsführer:innen schätzen, ist das von Vorteil, wenn sie sich nicht kennen, treffen sie sich idealerweise vor Beginn der Gruppen.“ Neben dem Willen zum Abschluss, Expert:innenwissen zum Verhandlungsthema, Kenntnis der Parteilinie – inklusive der Fähigkeit zur Beurteilung, wie weit man davon abgehen kann – brauchen Koalitionsverhandler:innen Gespür für ihre Gegenüber.

Sitzfleisch ist auf dieser Ebene noch nicht so wichtig: Die Sitzungen der Arbeitsgruppen sind meist zeitlich begrenzt, „und es ist ratsam, wenn jemand dabei ist, der auch schaut, dass Zeitplan und Inhalt für jede Sitzung eingehalten werden“, sagt der grüne Abgeordnete. Denn nachdem zum Sitzungsauftakt die Verhandlungspapiere aller Seiten mit ihren jeweiligen Positionen ausgetauscht sind, wird festgelegt, worüber wann verhandelt wird.

Und was, wenn man sich bei einem Thema partout nicht einigt? „Dann wird das Thema für eine Weile geparkt, und mit anderen weitergemacht“, sagt der grüne Insider. Der Vorteil: „Wenn man sich später auf zwei, drei andere Dinge einigt, erledigt sich manchmal das geparkte Thema von selbst.“ Ein anderer Ansatz sei, betont Khol, dass das Thema an ein Zweier-, oder wenn mehr Parteien verhandeln, oder ein Dreier-Gespann aus der Gruppe delegiert wird. Das kleine Team versucht dann, bis zur nächsten Sitzung eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung zu finden. Rote Linien, sagt der grüne Insider, definiert man parteiintern, kommuniziert werden diese aber nicht. Strategisch überlegt man sich schon vor Verhandlungsbeginn: „Wo geben wir vielleicht ein bisschen nach, wo brauchen wir ein bisschen mehr und wo gibt’s alternative Lösungen, an die vielleicht noch niemand gedacht hat.“

Alles, was in den Arbeitsgruppen entschieden wird – egal, ob es sich um eine Einigung handelt oder eben nicht –, sollte tunlichst dokumentiert werden, „und zwar so, dass alle Seiten das Protokoll auch gelesen und angenommen haben, sonst gibt es am Ende Missinterpretationen“, spricht der grüne Funktionär aus Erfahrung. Apropos sprechen: Klar ist auch die Rollenverteilung in den Arbeitsgruppen: „Es gibt von jeder Partei eine:n Verhandlungsführer:in, die führen das Wort in ihrer Partei, erteilen das Wort und sagen, wann der Sack zu ist oder nicht.“

Da kommt wieder das Sitzfleisch ins Spiel. Und Vertrauen. Khol: „Mit Menschen, bei denen man die Finger zählen muss, nachdem man ihnen die Hand gegeben hat, kann man keine Koalition verhandeln.“

In der Serie „Was macht eigentlich ein:e…?“ beschreibt Jasmin Bürger alle zwei Wochen die Schaltstellen der Republik. Alle Texte findet ihr in ihrem Autor:innenporträt.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner

  • Andreas Khol, ehemaliger VP-Nationalratspräsident, -Klubchef und -Abgeordneter

  • Koalitionsverhandler der Grünen im Jahr 2019

Daten und Fakten

  • In Folge der Nationalratswahl am 29. September erteilte Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach mehreren Gesprächsrunden mit allen Parteichef:innen den Regierungsbildungsauftrag an den bisherigen Kanzler und VP-Chef Karl Nehammer, obwohl die FPÖ stimmenstärkste Partei wurde. Van der Bellen begründete seine Entscheidung damit, dass alle anderen Parteien glaubhaft versichert hätten, nicht mit der FPÖ zu koalieren. Er wünsche sich eine „stabile, integre Regierung“, so Van der Bellen.

  • Nehammer strebt eine Dreierkoalition an und hat zunächst formal Sondierungen mit der SPÖ unter Parteichef Andreas Babler aufgenommen. Nach einer ersten Runde vor den Herbstferien geht es am 4. und 5. November weiter mit den Sondierungen, der bereits vereinbarte Fahrplan sieht vorerst Termine bis zum Jahresende vor.

  • In Nehammers Verhandlerteam sind Klubchef August Wöginger, Generalsekretär Christian Stocker, Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer, Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, obwohl sie bereits im Vorfeld ankündigte, kein Regierungsamt mehr anzunehmen.

  • An Bablers Seite verhandeln Vize-Klubchef Philip Kucher, ÖGB-Boss Wolfgang Katzian, die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures sowie Bundesfrauenvorsitzende Eva-Maria Holzleitner. Unterstützend ist auch Bundesgeschäftsführerin Sandra Breiteneder dabei.

  • Außerdem soll ein Expert:innenteam die Verhandler:innen in Budgetfragen unterstützen. Dabei sein sollen neben Personen aus den Parteien auch unabhängige Expert:innen.

  • Wann ein dritter potenzieller Partner zu den Verhandlungen zugezogen wird, war zuletzt noch offen.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien

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