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Weibliche Gewalt: „Lieber Täterin als immer nur Opfer“

von Max

Content-Warnung: In diesem Text geht es um psychische Gewalt in Beziehungen, Drogenkonsum, psychische Erkrankungen und Kindesvernachlässigung. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, lies diesen Beitrag vielleicht mit einer vertrauten Person, mit der du auch unterbrechen kannst, um dich mit ihr über das Gelesene zu unterhalten.

Julia*, 17 Jahre alt, straffällig. In intensiver Betreuung, nachdem sie wiederholt schwere Gewaltdelikte verübt hat, darunter Raubüberfälle. Ihre Biografie ist seit frühester Kindheit von instabilen Verhältnissen geprägt: Die Mutter leidet unter einer psychischen Erkrankung, der Vater war über Jahre in der Drogenszene aktiv. Nach der Trennung der Eltern übernimmt der Vater zeitweise Verantwortung, scheint auf einem guten Weg – stabil, drogenfrei, bemüht um Kontakt zu seiner Tochter. Doch als Julia im Volksschulalter ist, verliebt er sich neu, gründet eine Familie – und schließt sie zunehmend aus. Irgendwann bricht der Kontakt ganz ab, auf spätere Annäherungsversuche seiner Tochter reagiert er nicht mehr.

In dieser Zeit erleidet auch die Mutter eine schwere psychische Krise, sie kann sich nicht mehr um ihre Tochter kümmern. Mit 11 Jahren kommt Julia in eine Wohngruppe, wo sie bald durch Regelverstöße auffällt – ein erster Schrei nach Aufmerksamkeit. Mit 13 wird sie von ihrem damaligen Freund vergewaltigt. Sie erstattet Anzeige und es kommt zu einer Verurteilung des Täters, aber statt Unterstützung zu erfahren, wird sie von ihrer damaligen Betreuerin mit Vorwürfen konfrontiert: „Selbst Schuld, wenn du dich auf ihn einlässt.“ Später fliegt Julia aus der Wohngemeinschaft und wird in eine andere gebracht – wieder entwurzelt, wieder orientierungslos. In Parks trifft sie andere Jugendliche und sucht Anschluss. Sie will sich beweisen, gilt schnell als die besonders Wilde, Gefährliche, Unkontrollierbare. Zum ersten Mal erfährt Julia so etwas wie Anerkennung und Zugehörigkeit – die Clique wird zur Ersatzfamilie. Diese Zeit kennzeichnet den Anfang einer Reihe von Straftaten. Julia beschließt: „Lieber werde ich selbst zur Täterin als wieder zum Opfer.“

Jung, weiblich, auffällig

Julias Geschichte steht exemplarisch für viele junge Menschen, die beim Verein Neustart in Betreuung sind. Bei straffälligen Mädchen und jungen Frauen bis Anfang 20 beobachtet der Verein eine Zunahme an Gewaltdelikten. Laut Nikolaus Tsekas, Leiter von Neustart Wien, gibt es dafür verschiedene mögliche Erklärungen: „Eine ist, dass im Zuge der zunehmenden Gleichstellung auch bei jungen Frauen eine Haltung entsteht, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen – also nicht erst zu reagieren, wenn ihnen Gewalt widerfährt, sondern selbst aktiv zu werden.“ In Gruppen übernehmen weibliche Jugendliche laut Tsekas in Einzelfällen eine Art Führungsrolle: „Möglicherweise, um sich in einer testosterongeprägten Umgebung zu behaupten.“ Bei Jugendlichen, so auch bei Mädchen, die selbst Gewaltopfer sind, bestehe eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst gewalttätig werden – ein Teufelskreis. „Diesen Aspekt muss man in der Prävention und Aufarbeitung sehr ernst nehmen“, erklärt der Sozialarbeiter im Gespräch mit der WZ.

Der Verein Neustart leistet Bewährungshilfe und Prozessbegleitung für Straffällige.

© feelimage / Matern

Laut polizeilicher Anzeigenstatistik hat sich die Zahl der tatverdächtigen Mädchen unter 14 Jahren in Österreich seit 2008 beinahe verdoppelt – 2024 waren es 2.494. Da unter 14-Jährige aber strafunmündig sind, wird kein Verfahren eingeleitet, sondern es werden Erziehungsmaßnahmen gesetzt. Verurteilungs- und Anzeigenstatistik weichen entsprechend stark voneinander ab. Die häufigsten Delikte bei weiblichen Jugendlichen sind Ladendiebstähle, gefolgt von Körperverletzung und Sachbeschädigung. Tatverdächtige werden bei Begehung mehrfacher Straftaten mehrfach gezählt – Intensivtäterinnen haben also einen nicht unbeachtlichen Einfluss auf die Zahlen. Insgesamt ist Jugendkriminalität nach wie vor überwiegend männlich dominiert: Der weibliche Anteil liegt seit 1998 konstant bei etwa 20 Prozent. Die Gesamtzahl stark auffälliger Jugendlicher unter 14 Jahren sei in Wien sehr gering – laut Tsekas handelt es sich um 30 bis 40 Personen. „Trotzdem gibt es eine nicht zu vernachlässigende Gruppe an Mädchen, um die wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen“, betont er.

Vom Innenkampf zur sichtbaren Gewalt

„Während Buben eher impulsive oder aggressive Verhaltensweisen zeigen, richten Mädchen ihren Frust tendenziell eher gegen sich selbst – etwa in Form von selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen oder anderen autoaggressiven Strategien“, erklärt Kriminologin Katharina Beclin im WZ-Interview. Das zeigt auch eine deutsche Studie der wissenschaftlichen Fachzeitschrift BMC Public Health aus dem Jahr 2011. „Gewalt nach außen wird bei Mädchen oft erst dann sichtbar, wenn sie viel heruntergeschluckt haben“, sagt Beclin und erinnert sich an einen Workshop zur Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen. Die Expert:innen betonten dort, dass die Mädchen zwar deutlich in der Minderheit seien, aber durch besonders aggressive Verhaltensweisen auffallen würden. Eine Eskalation erscheine dann oft wie die einzige Möglichkeit, um Geschehnisse zu verarbeiten.

Kinderpsychologin Simone Fröch führt die Unterschiede im Umgang mit Gewalt auch auf traditionelle Rollenbilder zurück – nach dem Motto ‚Mädchen schlagen nicht, Buben weinen nicht‘. Sie betont aber: „Mir scheint, dass sich diese Unterschiede zwischen offener Gewalt bei Buben und verdeckter und selbstschädigender Gewalt bei Mädchen zunehmend verringern.“

Prävention fängt im Kindergarten an

Kindern müssen verschiedene Möglichkeiten zur Konfliktlösung vorgelebt werden, erklärt die Psychologin: „Wird in ihrer Umgebung Gewalt als Instrument zur Lösung von Konflikten eingesetzt, lernen sie daraus, dass es ein Mittel zur Zielerreichung ist.“ Deshalb sei Frühprävention so wichtig. Laut Beclin zeige sich auffälliges Gewaltverhalten von Kindern oft schon im Kindergarten. „Es braucht daher neben Schulen auch in Kindergärten Sozialarbeiter:innen, die mit Familien ins Gespräch kommen und Unterstützung anbieten“, fordert die Kriminologin. Doch auch die Zivilgesellschaft müsse in die Pflicht genommen werden – etwa durch die stärkere Betonung im öffentlichen Diskurs, dass Gewalt ein Zeichen von Schwäche ist: „Je klarer wir das kommunizieren, desto weniger attraktiv wird Gewalt auch als Teil des ‚männlichen‘ Rollenbilds.“

Ein neues Leben

Zurück zu Julia. Heute lebt sie in einer betreuten Einrichtung, die ihr eine neue Perspektive bieten soll – weg von Gewalt, hin zu einem selbstbestimmten, legalen Lebensweg. Die Beziehung zu ihrer aktuellen Bezugsbetreuerin ist stabil und von gegenseitigem Vertrauen geprägt. Die Bewährungshilfe nimmt sie als Unterstützung wahr und erfährt so eine langfristige zuverlässige Betreuung. Doch auch Rückschritte gehören dazu: abgesagte Termine, verweigerte Gespräche, spontane Ausbrüche. „Wichtig ist, wie das Umfeld reagiert: nicht mit Abwertung oder Strafen, sondern mit Verlässlichkeit, Klarheit und Geduld“, erklärt Nikolaus Tsekas. Genau das erfährt Julia nun zum ersten Mal.

*Name von der Redaktion geändert

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