Man kann es zu Hause tun und es kostet nichts: Künstlerische Tätigkeit entlastet Geist und Psyche. Wer ein mentales Tief hat, kann von Malen, Zeichnen, Schnitzen oder Knüpfen profitieren. Die Forschung erklärt, warum dem so ist.
Pinsel, Bleistift, Hobel oder Nähnadel – die Mittel für den kreativen Selbstausdruck finden sich in fast jedem Haushalt. Doch viele von uns haben das letzte Mal in der Schule sorgenfrei gemalt, gezeichnet, gebastelt oder genäht. Dabei lohnt es sich, wie ein britisches Forschungsteam nun nachgewiesen hat, Malsachen, Schnitzmesser, Wolle, Zwirn und Stricknadel wieder hervorzukramen. Und zwar nicht, um die eigenen vier Wände zu verschönern oder den Kleiderkasten um selbstdesignte Hemden zu bereichern, sondern um Spannungen und Stress abzubauen.
Künstlerische und kunsthandwerkliche Tätigkeit kann nicht nur Spaß machen, sondern das kreative Spiel mit Form und Farbe tut der Seele gut und leistet einen Beitrag zur psychischen Gesundheit. Und zwar auch dann, wenn sich nicht das Talent eines Michelangelo auf Leinwand oder Papier manifestiert. Anlass für die Studie war die gestiegene Anzahl von Menschen mit psychischen Problemen vor dem Hintergrund von Krisen wie Corona-Pandemie, Krieg oder Teuerung. Die Zahlen für unser Land: Nach Angaben des Sozialministeriums nehmen jährlich rund 900.000 Österreicher:innen das Gesundheitssystem wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch. Im Lauf des Lebens haben 25 bis 30 Prozent zumindest einmal mit solchen Diagnosen zu kämpfen. Mittlerweile dreht sich jede fünfte Telefonberatung des Servicedienstes „Rat auf Draht“ um psychische Erkrankungen – ein Plus von zwei Dritteln innerhalb von nur vier Jahren.
Die Psycholog:innen der Anglia Ruskin University wollten wissen, mit welchen kostengünstigen Mitteln Gesundheitssysteme dem Problem entgegentreten können. Befragt wurden 7.182 Personen unterschiedlicher Professionen und Altersstufen im Rahmen des „Taking Part Survey“, mit dem das Kulturministerium in London die Wirkung seiner Verantwortungsbereiche erforscht.
Die Teilnehmer:innen wurden gebeten, ihr Glücksempfinden, ihre Ängste und ihre Lebenszufriedenheit einzuschätzen und unter anderem auch Angaben zu etwaigen künstlerischen oder kunsthandwerklichen Praktiken zu machen. Insbesondere jene 37,4 Prozent der Befragten, die in den letzten zwölf Monaten mindestens einer Tätigkeit dieser Art nachgegangen waren, berichteten von einem höheren Maß an Glück, Sinnstiftung und Lebenszufriedenheit, sowie stärker von dem Gefühl, dass das Leben lebenswert sei.
Das Rätsel der Kreativität
„Handwerkliche und künstlerische Tätigkeiten hatten eine bedeutende Wirkung auf das Gefühl der Befragten, dass ihr Leben lohnenswert ist“, wird Studienautorin Helen Keyes in einer Aussendung der Universität zitiert. „Der Einfluss kunsthandwerklicher Tätigkeit war sogar größer als jener der Erwerbstätigkeit. Handwerk verschafft uns ein Erfolgserlebnis und ist ein Weg des Selbstausdrucks. Es ist ein großartiges Gefühl, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und seinen Geist kreativ zu beschäftigen“, sagt Keyes.
Der Geisteszustand, in den man sich dabei begibt, ist eine Mischung von Kreativität und Meditation. Wenn sich Kunstschaffende eine fiktive Welt ausdenken, ist bei ihnen ein neuronales Netzwerk aktiv, das sich bei vielen anderen Menschen meist nur beim Ruhen oder Tagträumen meldet. Bezeichnenderweise heißt es Ruhezustandsnetzwerk, im Englischen Default Mode Network. Es wird in der Regel dann aktiv, wenn wir die Gedanken schweifen lassen, oder uns mit uns selbst beschäftigen und die Aufmerksamkeit nicht nach außen, sondern nach innen richten. Das berichtet ein Team um die Hirnforscherin Meghan Meyer vom Dartmouth College im US-Staat New Hampshire zur Wirkung von Kreativität. Beispiel: Wenn wir Social Media Posts durchstreifen, um andere zu bewerten und uns selbst mit ihnen zu vergleichen, verstummt dieses Netzwerk. Wenn wir uns aber neue Bilderwelten vorstellen, die uns unter anderem auch für eigene Postings gefallen könnten, wird es aktiv.
Erfolgserlebnis und Selbstausdruck
„Handwerk ist schöpferische Meditation.“ Mit Slogans wie diesem werben Anbieter:innen von Kursen zu Kunsthandwerkstechniken im Internet. Die positive Wirkung von Meditation auf Gesundheit und Psyche ist durch zahlreiche Studien belegt. Ob die Analogie mit dem Handwerk stimmt, bedarf noch weiterer Forschungsarbeit. Doch nicht nur die aktuelle Studie, auch die Erfahrung Betroffener zeigt, dass etwas dran sein könnte.
Immerhin scheint eine kreativ fokussierte Tätigkeit ein Gefühl von Stressabbau zu vermitteln, wie die Juristin Martha zu berichten weiß. Vor einigen Jahren verlor sie zuerst ihre Mutter und wenig später trennte sich ihr langjähriger Partner von ihr. Das brachte die gebürtige Wienerin an den Rand des Nervenzusammenbruchs. „Körperlich fühlte ich mich zittrig und ich war ständig den Tränen nahe. Meine Gedanken kreisten immer um dieselben Themen“, sagt die junge Frau zur WZ. „Meine Psychotherapeutin legte mir schließlich ans Herz, mich mit einer handwerklichen Tätigkeit zu beschäftigen, um herunterzukommen und mich selbst zu regulieren.“ Dabei sollte eine Schachtel aus der Schulzeit die Rettung sein. Als Martha sie öffnete, fand sie ihr halbfertige Knüpfarmbänder, Vorlagen für weitere und noch unbenutzte Garne in bunten Farben. „Ich habe einfach weitergemacht, wo ich damals in der Unterstufe aufgehört hatte, und habe drauflos geknüpft. Und es hat wahnsinnig gut funktioniert“, erzählt Martha.
Was genau funktionierte da? „Für mich war es die Fokussierung auf eine einzige Tätigkeit, die gerade kniffelig genug war, dass ich mich auf sie konzentrieren musste, aber mich nicht in einem Ausmaß forderte, dass ich daran verzweifelte.“ Bei kleinteiliger Handarbeit könne man durchaus Fehler machen, daher müsse man bei der Sache bleiben. Genau das war eine Quelle der Psychohygiene. „Der Rest meines Gehirns machte während des Knüpfens Pause, die Gedankenspirale hörte auf. Die Anspannung löste sich, das Kopfkino verschwand. Wenn ich die Armbänder machte, konnte ich loslassen und mich daran gewöhnen, dass Loslassen, nicht Anspannung, normal ist“, berichtet Martha. Irgendwann stellten sich auch Gefühle von Freude und Stolz über die eigenen Produkte ein.
Man selbst ist der Maßstab
,,Das Betreiben von künstlerisch-handwerklichen Tätigkeiten kann die Psyche entlasten, da man sich dabei ganz in eine Tätigkeit oder Aufgabe vertieft – idealerweise in einer entspannten, stressfreien Atmosphäre“, sagt die Wiener Psycho- und Kunsttherapeutin Siegrid Sommer. ,Die Gedanken schweifen dabei nicht zu belastenden Situationen in die Vergangenheit ab, oder kreisen nicht um ängstigende Vorstellungen in der Zukunft. ,,Die Aufmerksamkeit ist auf die Tätigkeit im Hier und Jetzt und die Verbundenheit mit dem Körper gerichtet, was eine ausgleichende Wirkung haben kann“, erklärt Sommer.
Maßstab ist nicht die Außenwelt, sondern man selbst. Diesen Effekt nutzt auch die Ergotherapie mit großem Erfolg. Vordergründig sollen dabei alltägliche Fähigkeiten, deren Ausübung durch Unfall oder Krankheit schwierig geworden ist, wiederhergestellt oder gepflegt werden. Das Mittel dazu ist Präsenz im Moment und Konzentration auf eine einzige Sache, sei es durch Turn- und Balance-Übungen, Tanz oder handwerkliche Tätigkeiten. Die Fingerfertigkeit wird trainiert, der Geist entspannt sich, und wie nebenbei wird das Weben von Pölstern, Bearbeiten von Specksteinen oder Flechten von Körben zu einem Erfolgserlebnis.
Für Martha vermittelte die Haptik auch eine Form von Sicherheit. „Eine schöpferisch-künstlerische Tätigkeit gibt im wahrsten Sinn das Gefühl, etwas in der Hand zu haben“, sagt sie. Das Forschungsteam um Helen Keyes sieht darin sogar die Chance, das Wohlbefinden der Bevölkerung zu verbessern, und empfiehlt öffentliche Förderungen für entsprechende Kurse. Wer nicht darauf warten will, der kramt zuhause nach Pinsel, Bleistift, Hobel oder Nähnadel.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteurin Eva Stanzl zeichnete als Kind gern und viel. Sie machte dabei die Erfahrung, dass diese Tätigkeit sie entspannte. Die im Text beschriebene Studie bestätigte sowohl dieses Erlebnis als auch eine Erfahrung in der Ergotherapie nach einem Fahrradunfall und schien ihr daher interessant.
Gesprächspartnerinnen
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Siegrid Sommer, Psychotherapeutin, Kunsttherapeutin und Hypnotherapeutin in Wien, sowie Trainerin für Neuro-Linguistisches Programmieren.
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Martha, studierte Juristin aus Wien, berichtete der WZ über die Wirkung von Kunsthandwerk anhand ihrer Erfahrungen in einer Therapie.
Daten und Fakten
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Die Ergotherapie unterstützt Menschen, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkungen bedroht sind. Ziel ist, sie bei der Durchführung von für sie bedeutungsvollen Tätigkeiten zu stärken. Ergotherapie wird in allen psychiatrischen Fachdisziplinen bei unterschiedlichen Diagnosen angewandt. Es kommen gestaltungstherapeutische und kreativitätsfördernde Techniken zum Einsatz, um krankheitsbedingte Störungen aufzuheben, Fähigkeitsstörungen zu beseitigen und den Bezug zu sich selbst und zur äußeren Realität sowie die Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit zu verbessern.
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In der Kunsttherapie wird hauptsächlich mit Medien der bildenden Kunst gearbeitet. Dazu zählen malerische oder zeichnerische Medien, plastische Gestaltung oder auch Fotografie. Unter therapeutischer Begleitung können Patient:innen innere und äußere Bilder ausdrücken, ihre kreativen Fähigkeiten entwickeln, ihre sinnliche Wahrnehmung ausbilden und Gefühle zum Ausdruck bringen, die sie nicht in Worte fassen können.