Dan Morain: Ich habe keine Ahnung. Das Rennen ist zu eng. An manchen Tagen denke ich, Kamala Harris wird gewinnen. An anderen Tagen tendiere ich zu einem Trump-Sieg. Ich weiß es einfach nicht.
Wird das Ergebnis zügig kommen?
Ich denke, wir werden am Abend des 5. November nicht wissen, wie diese Wahl ausgegangen ist. Die Stimmenauszählungen laufen dann noch. Das kann sich verzögern – gewiss in Pennsylvania, wo die Briefwahl-Umschläge erst am Wahltag geöffnet und ausgewertet werden dürfen. Und dieser Bundesstaat wird eine Schlüsselrolle spielen.
Laut Umfragen hat die Kandidatin der Demokraten Schwierigkeiten, in wichtigen Bundesstaaten in Führung zu gehen. Glauben Sie, Kamala Harris macht genug, um unentschlossene Wähler zu erreichen?
Sie und ihr Team haben meiner Ansicht nach einen nahezu makellosen Wahlkampf absolviert. Sie musste in kurzer Zeit von 0 auf 100 durchstarten. Das war eine Herkules-Aufgabe, die sie sehr gut gemeistert hat. Aber natürlich gibt es Probleme. Sie ist in der Wählerschaft anscheinend noch immer nicht sehr bekannt. Sie hat offenkundig Probleme, Männer ohne Universitätsabschluss, besonders weiße Männer, für sich einzunehmen. Ich denke, sie macht alles, was möglich ist. Aber man kann niemanden zur Wahl zwingen.
Es gibt die Wahrnehmung, dass Kamala Harris die Politik des unbeliebten Joe Bidens fortsetzen würde. Als sie gefragt wurde, was sie im Rückblick anders gemacht hätte, sagte sie, ihr falle nichts ein. Glauben Sie, dass das ausreicht?
Kamala Harris ist loyal gegenüber Joe Biden. Sie wird nichts Abfälliges über ihn sagen, sollte sie auch nicht. Sie sind offenkundig in den vergangenen vier Jahren Freunde geworden und haben Respekt voreinander. Aber: Wenn sie ins Amt kommt, hat sie ihr eigenes Team, ihren eigenen Außenminister, ihren eigenen Generalstaatsanwalt. Sie wird andere Entscheidungen treffen als Joe Biden. Aber bei den großen Themen sind sie sich oft einig.
Hat sie genügend Einblick gegeben, wie eine Präsidentin Kamala Harris regieren würde? Sie blieb oft ungenau.
Sie hat mehr Details herausgelassen als bei ihrer Bewerbung für den Senat. Sie wird bei Themen wie Ukraine und NATO den Biden-Kurs fortsetzen. Sie ist sehr klar und deutlich, wenn es um Abtreibung geht.
Sollte sie in der Israel-Gaza-Frage deutlich werden, wenn man berücksichtigt, dass im umkämpften Bundesstaat Michigan ein hoher Anteil der Wählerschaft muslimische Wurzeln hat und insbesondere die US-Waffenlieferungen an Israel scharf kritisiert?
Sie hat sehr klar gemacht, dass die USA mit ihr der wichtigste Verbündete Israels bleiben werden. Diese fundamentale Position wird nicht verändert. Wenn Sie mich fragen, ob sie unter vier Augen anders mit Premierminister Benjamin Netanjahu redet als Biden, sage ich: Da können Sie drauf wetten.
Hätte sie bei dem von Trump hochgezogenen Thema illegale Einwanderung aufrichtiger sein und Fehler der Biden-Regierung eingestehen müssen?
Das Einwanderungsthema gibt es seit Langem. Ich habe fast mein gesamtes Leben in Kalifornien verbracht – wir sind ein Grenz-Staat, der früher zu Mexiko gehörte. Die Leute ziehen seit Jahrhunderten von einer Seite zur anderen und sie werden nicht damit aufhören. Kamala Harris ist die Tochter von Einwanderern. Sie versteht das Problem sehr genau.
Viele Wähler finden, dass Harris zu unkonkret ist.
Sie ist Politikerin. Sie will sich Optionen offenhalten. Darum nimmt sie jetzt keine spezifischen Positionen ein. Ich erinnere mich, als sie Anfang 2015 ihre Kandidatur für den Senat bekanntgab. Journalisten wollten wissen, wie sie zur NATO steht. Es war schwer, von ihr eine Aussage zu bekommen. Sie hatte sich damals noch nicht genug damit beschäftigt.
Kamala Harris macht ihre Hausaufgaben. Sie handelt überlegt. Sie macht wenige Fehler, wenn sie in der Öffentlichkeit spricht. Schon in ihrer Zeit in Kalifornien als Staatsanwältin hat sie immer nur dann Position bezogen, wenn sie es musste. Im laufenden Wahlkampf hat sie nichts gesagt, was sie einengt und später bereuen könnte.
Im Allgemeinen weiß man, wo sie steht. Sie ist politisch links von der Mitte verortet. Sie ist ein etablierte Mainstream-Demokratin, die bei manchen Themen, etwa Kriminalitätsbekämpfung, ziemlich konservativ ist. Als sie Justizministerin war, schrieb ich einmal als Kolumnist, sie sei zu vorsichtig.
Am Ende kam ich als ihr Biograf zu dem Schluss, dass man sich eine Generalstaatsanwältin genau so wünscht – als jemand, der sich zurückhält und die Dinge bis zum Ende denkt. Gewiss auch eine wichtige Qualität im Präsidentenamt. Donald Trump scheint dagegen impulsiv zu sein und nicht mehrere Schritte im voraus zu denken.
Seit Joe Biden den Kandidatur-Verzicht im Juli erklärt hat bis heute: Hat Sie etwas überrascht an Kamala Harris?
Sie war eine gute Kandidatin in Kalifornien. Sie ist heute noch besser. Ihre Reden sind besser geworden. Sie vertraut ihren Fähigkeiten. Und sie offenbart Dinge, die sie vor Jahren niemals öffentlich erzählt hätte. Etwa, dass sie eine Glock-Pistole besitzt und Eindringlinge damit erschießen würde. Oder, dass sie bei McDonald`s gearbeitet hat. Das ist neu.
Am aufschlussreichsten fand ich aber ihre Bemerkung in einer Fernsehrunde. Auf die Frage, wem ihr erster Anruf galt, nachdem Joe Biden im Sommer den Rückzug von der Kandidatur erklärte hatte, sagte Harris: ihrem Pastor. „Ich brauchte ein Gebet.” Ich wusste, dass sie gläubig war. Aber sie hat früher nie über Religion gesprochen. Niemals.
Wenn Sie gewinnt, würden wir eine andere Kamala Harris erleben – offener, klarer, deutlicher, was ihre Ziele angeht?
Das glaube ich nicht. Sie weiß die Rolle von Journalisten zu schätzen. Aber das heißt ja nicht, dass sie das Biest ständig füttern will. Es ist Teil ihres Charakters, Dinge für sich zu behalten.
Was ist ihr größter Vorzug?
Sie glaubt an die Verfassung und an Rechtsstaatlichkeit. Sie bewundert nicht Hitler. Sie ist keine Radikale. Sie ist sehr schlau und tough. Sie lässt sich nicht herumschubsen. Wer Kamala Harris unterschätzt, tut das auf eigene Gefahr.