Begonnen hat das Drama schon vor mehr als 30 Jahren. Damals wurden die hochdefizitären Staatsbahnen der BRD und der DDR zusammengelegt, aus der „Behörde Bahn“ sollte eine moderne, private AG werden. Die Maxime dazu hieß Gewinn, Gewinn, Gewinn; das neue Management feuerte deshalb die Hälfte der 350.000 Mitarbeiter und ließ 14.000 Kilometer Gleise und knapp 60.000 Weichen abbauen. „Unrentabel“ sei das alles, hieß es damals. Dünner besiedelte Landstriche wurden so plötzlich bahnlos.
Stau im Netz
Die Auswirkungen spüren die Bahnkunden bis heute, auch im ICE 94 nach Berlin. Der hält vor der Endstation auf freier Strecke, dann heißt es: „Vor uns blockiert ein Regionalzug das Gleis.“ 34 Minuten später geht es weiter, die Leute stöhnen. Die Weiche, die der Zug zum Überholen hätte nutzen können, wurde vor Jahren abmontiert. Hinter ihm stehen die nächsten Züge, ein Dominoeffekt.
Der Stau auf deutschen Gleisen ist das nervigste Problem der Bahn, aber bei Weitem nicht das einzige. Die bröckelnde Infrastruktur ist weitaus gefährlicher. Verursacht hat die das Unternehmen selbst. Denn die Bahn wurde in Aktiengesellschaft überführt, ging aber nie an die Börse; Eigentümer blieb der Staat. Diese eigenartige Konstruktion führte dazu, dass der Bund jährlich Milliarden Richtung Bahn fließen lässt, die Bahn die aber nicht in ihre Netze investierte, sondern in Expansion im Ausland.
Zur Modernisierung hatte sie auch keinen Anreiz. Laut Gesetz muss die Bahn zwar für Sanierungen aufkommen, Neubauten muss aber der zur Gänze Bund zahlen, zusätzlich zum Normalbudget. Das wurde als Einladung gesehen, Strecken und Brücken so lange verfallen zu lassen, bis sie komplett neu gebaut werden müssen. Nicht wenige Stellwerke werden darum noch händisch mit Seilzügen betrieben – die Technik stammt aus Kaiserzeit und Weimarer Republik.
Wer war verantwortlich?
Wer die Schuld dafür trägt, darüber streitet die Politik bis heute. Gern wird mit dem Finger auf den langjährigen Bahnchef Hartmut Mehdorn gezeigt, der nach seinem Abtritt 2009 auch das Baudebakel am Berliner Flughafen mitverantwortete. Mit ihm wurde die Bahn plötzlich in 130 Ländern aktiv, in der Luftfahrt, auf See, als Logistiker oder sogar Busunternehmer. Richtig großen Erfolg hatte all das nicht: „Die Investitionen in die neuen Geschäftsfelder waren weitgehend Fehlschläge“, urteilt Bahnexperte Christian Böttger von der HTW Berlin. 2023 machten fast alle Bahnsparten Verluste, die Verschuldung wächst seit 2016 um fünf Millionen Euro pro Tag – „mittlerweile liegt sie bei mehr als 30 Milliarden Euro“.
Doch die Politik trägt ebenso ihren Anteil daran, das sagt auch der Bundesrechnungshof in regelmäßigen Abständen. „Seit über 30 Jahren gibt es keine Eigentümerstrategie“, heißt es im jüngsten Bericht vom Herbst; und da sind Verkehrsminister aus CDU, FDP und SPD gleichermaßen gemeint. Man habe Konzern einfach machen lassen, ohne genau hinzusehen – in der Hälfte der DB-Firmen sitzt der Bund nicht mal im Aufsichtsrat; lange Jahre wurde vergeblich auf Gewinne gehofft, ohne genau hinzusehen. Investitionen wollte die Politik lange nicht sehen: 2023 wurden pro Kopf 115 Euro in Schienen investiert. In Österreich fast dreimal so viel.
Verschnarcht
„Die Politik hat das einfach verschnarcht“, sagt der junge Mann, den die Bahn einst nicht nach Wolfsburg gebracht hat. Zwar hat in den letzten Jahren ein Umdenken eingesetzt; 2024 startete die Bahn eine Generalsanierung, bis 2030 sollen die Hochleistungsstrecken des Netzes modernisiert und ausgebaut werden. Doch die Ankündigungen von Verkehrsminister Volker Wissing – „im Moment läuft es richtig gut“, sagte er – hielten nicht lange. Beim ersten Prestigeprojekt, der Achse Mannheim bis Frankfurt am Main, wuchsen die Kosten auf das Zweieinhalbfache. Ähnlich ist es beim laut getrommelten Deutschlandtakt. Bis deutsche Züge nach Schweizer Vorbild im Stundentakt fahren, wird es dauern – bis 2070, gab das Verkehrsministerium kleinlaut zu.
Wenigstens da ist der ICE schneller. Die Heizung funktioniert zwar bis zur Endstation nicht, aber er hat nur 40 Minuten Verspätung.