Aus Haifa, Markus Ponweiser
Die Proteste gegen die israelische Regierung flammen erneut auf. In Tel Aviv, Jerusalem und in Haifa versammeln sich Demonstranten mit israelischen Fahnen und Schildern, auf denen „Demokratie oder Diktatur“ steht. Die Angst vor einem autoritären Staat treibt die Menschen an – viele von ihnen protestieren bereits seit Monaten gegen die Justizreform und die wachsende Machtkonzentration in Netanyahus Händen.
Durch die jüngsten Ereignisse haben sich die Teilnehmerzahlen der wöchentlichen Demonstrationen vervielfacht und erreichen fast wieder die Dimensionen wie von vor dem 7. Oktober 2023.
Jüngster Anlass für die Proteste: Israels Kabinett hat am Sonntag Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara das Misstrauen ausgesprochen. Der Justizminister hält der Generalstaatsanwältin vor, ihr „Amt zu politisieren und die Regierung zu behindern“. Baharav-Miara hatte sich wiederholt gegen Entscheidungen der Regierung von Netanjahu gestellt.
Eine Amtsenthebung der Generalstaatsanwältin wird allerdings wegen hoher Hürden voraussichtlich Monate in Anspruch nehmen.
„System wie in Russland“
Einer dieser Demonstranten ist Israel Waismel-Manor, ein 52-jähriger Professor der Universität Haifa. Seit über zwei Jahren geht er jeden Samstag auf die Straße, um gegen die Politik der Regierung zu protestieren.
Für ihn geht es längst nicht mehr nur um einzelne politische Entscheidungen: „Hier steht die Seele des Landes auf dem Spiel. Wir müssen entscheiden, ob wir weiterhin in einer Demokratie leben wollen oder in einem System wie in Russland.“
Sein Plakat macht diesen Konflikt deutlich. Es zeigt die israelischen Gründerväter und langjährigen Premierminister David Ben- Gurion und Menachem Begin auf der einen Seite und die autoritären Staatsführer Erdogan und Putin auf der anderen. In der Mitte steht Netanjahu, der als Symbol für den Übergang zwischen Demokratie und Autokratie dient.
Die Situation spitzt sich weiter zu, viele rechnen mit einem Generalstreik. Nachdem die Regierung am Sonntag die Generalstaatsanwältin entlassen hat, haben mehrere Institutionen angekündigt, diese Entscheidung nicht hinzunehmen und das Land stillzulegen. Ein solcher Schritt würde von vielen als direkter Angriff der Regierung auf die Justiz und Versuch gewertet werden, die Rechtsstaatlichkeit auszuhöhlen – insbesondere in einem Land, in dem die Justiz als letzte Kontrollinstanz gegen exekutive Machtkonzentration gilt.
Baharav-Miara hatte zuvor Netanyahus Entscheidung zur Entlassung von Ronen Bar abgelehnt, woraufhin Justizminister Yariv Levin sie als „langen Arm der Opposition“ bezeichnete.
Oppositionsführer Yair Lapid verschärfte die Rhetorik und rief die Israelis bei einer Demonstration in Tel Aviv sogar dazu auf, ihre Steuern zu verweigern. Das Israel Business Forum, das die Mehrheit der Angestellten der 200 größten Unternehmen des Privatsektors vertritt, drohte damit, die Wirtschaft vollständig lahmzulegen. Auch die acht Forschungsuniversitäten des Landes erklärten, sie könnten ihren Betrieb komplett einstellen.
Was nach extremen Maßnahmen klingt, ist für Michael Pappe, einen 73-jährigen Rechtsanwalt, alternativlos. Auch er protestiert bereits seit mehr als zwei Jahren gegen Netanjahu. „Israel befindet sich in einer der schlimmsten Phasen seit der Staatsgründung 1948“, sagt er. Die Demokratie sei in akuter Gefahr, Kompromisse könne es nicht geben: „Es gibt nur entweder oder.“
Viele hoffen nun, dass Netanjahu mit der geplanten Entlassung der Generalstaatsanwältin zu weit gegangen ist. Es wäre nicht die erste umstrittene Entscheidung der letzten Tage. Umfragen zeigen, dass drei Viertel der Israelis eine Fortsetzung des Krieges in Gaza ablehnen, wenn sie die Rückkehr der Geiseln gefährdet. Dennoch entschied sich Netanjahu dafür, die Kampfhandlungen fortzuführen.
Auch die Entlassung von Ronen Bar, dem Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, die Netanjahu lediglich mit „mangelndem Vertrauen“ begründete, sorgte für große Empörung. Bar hatte zuvor angekündigt, eine Untersuchung gegen Netanjahus Umfeld wegen mutmaßlicher finanzieller Verbindungen nach Katar einzuleiten, die potenziell politischen Einfluss auf Israel gehabt haben könnten. Für Israel Waismel-Manor ist all dies ein Zeichen, dass sich die Schlinge um Netanyahu langsam zuzieht.
„Netanjahu wird immer verzweifelter. Deswegen greift er nun zu drastischeren Mitteln, um seine Haut zu retten.“ Er verweist auf die laufenden Korruptionsprozesse gegen den Premierminister, in denen Netanyahu regelmäßig vorgeladen wird. Zwar genießt er als amtierender Regierungschef keine formelle Immunität, doch seine Kritiker werfen ihm vor, seine politische Macht gezielt zu nutzen, um juristische Verfahren zu seinen Gunsten zu beeinflussen.