Die Liste der Wahlversprechen ist jedes Mal lang – gehalten werden nur rund die Hälfte. Wusstet ihr, dass Politiker:innen nicht verpflichtet sind, diese einzuhalten? Wozu führt das?
Mehr Geld für dieselbe Arbeit: Gleich drei Parteien, nämlich ÖVP, FPÖ und Neos, hatten im Wahlkampf zur Nationalratswahl versprochen, die Lohnnebenkosten zu senken, sollten sie die Möglichkeit dazu bekommen. Die Grünen sprachen sich für eine Kindergrundsicherung aus – also kostenlose Kindergartenplätze schon für Einjährige und gratis Nachmittags- und Ferienbetreuung –, und die SPÖ wollte diese sogar mit einem monatlichen Fixbetrag sowie einkommensabhängigen Leistungen auffetten.
Das alles würde viel Geld kosten. Sehr viel Geld. Geld, das es offenbar gar nicht gibt, weil es viel weniger bis gar keine Ideen zur Gegenfinanzierung gab und die EU-Kommission erst im Juni Österreich zur Budgetsanierung aufgefordert hatte: Christoph Badelt, Chef des Fiskalrats, der die Staatsfinanzen analysiert, sprach von einem Defizit von insgesamt 12,6 Milliarden Euro.
Waren die Wahlversprechen vor der Nationalratswahl also nur heiße Luft? Eine Art Wunschkonzert für die Wähler:innen mit dem einzigen Zweck, ihnen zu gefallen? Am 29. September hat Österreich gewählt. Und in jedes Kreuz floss vermutlich auch ein Stückchen Zuversicht, dass die gewählte Partei die Versprechen, die sie gegeben hat, auch einhält.
Mehr als 150 Versprechen pro Partei
„Rund die Hälfte der Wahlversprechen wird nicht gehalten“, sagt dazu die Politikwissenschaftlerin Katrin Praprotnik von der Universität Graz. Seit 1990 untersucht sie die Wahlversprechen der späteren Regierungsparteien bei Nationalratswahlen. Durchschnittlich seien das mehr als 150 Versprechen pro Partei. „Die Anzahl der Versprechen bleibt seit Jahrzehnten relativ konstant. Auch, ob sie von einer größeren oder kleineren Partei kommen, spielt keine Rolle.“
Generell zeichne sich ab, dass die Parteien Versprechen zu Reformen seltener halten als jene, die die Beibehaltung des Status quo zum Ziel haben, sagt Praprotnik. In anderen Worten: Wechselt eine Oppositionspartei nach der Wahl in die Regierung, werden zuvor versprochene Reformen dann oft doch nicht umgesetzt. Alleinregierungen halten ihre Versprechen zudem häufiger als Koalitionsregierungen, und auch, ob die Legislaturperiode voll ausgeschöpft werden kann oder vorzeitig endet, sei naturgemäß relevant. Das aktuelle Wirtschaftswachstum spielt laut Praprotnik ebenfalls eine wesentliche Rolle.
Die FPÖ hatte im Jahr 2000 den geringsten Anteil an umgesetzten Wahlversprechen.
Katrin Praprotnik, Politikwissenschaftlerin
„Die FPÖ hatte im Jahr 2000 den geringsten Anteil an umgesetzten Wahlversprechen, als sie in die Regierung gekommen ist“, sagt Praprotnik zur WZ. Die FPÖ koalierte damals zum ersten Mal mit der ÖVP unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, Vizekanzlerin war Susanne Riess-Passer von der FPÖ. Nur rund 20 Prozent der FPÖ-Wahlversprechen wurden laut Praprotnik umgesetzt. Zwischen ÖVP und SPÖ sei die Erbschafts- und Schenkungssteuer ein Dauerbrenner: Seit dem 1. August 2008 gibt es diese nicht mehr, die SPÖ verspricht seitdem deren Wiedereinführung, die ÖVP, dass es so bleibt, wie es ist.
Von der ÖVP komme indes immer wieder das Versprechen, die Steuer-Abgabenquote in Richtung 40 Prozent zu senken, wie es auch in den vergangenen zwei Regierungsprogrammen geschrieben stand; zuletzt hat sie dieses Versprechen 1999 tatsächlich gehalten. Die Abgabenquote ist das Verhältnis zwischen allen Steuern und Sozialabgaben und dem Bruttoinlandsprodukt und lag im Vorjahr laut Statistik Austria bei 43,5 Prozent.
Vergleicht man Österreichs Politiker:innen und deren Wahlversprechen mit jenen anderer europäischer Länder, so wird hierzulande mehr versprochen: Der Durchschnitt liege bei 111 Wahlversprechen pro Partei und Wahlprogramm, sagt Praprotnik, die gemeinsam mit Robert Thomson von der Monash University in Australien die Wahlversprechen von zwölf Ländern erforscht hat. Der Anteil der umgesetzten Versprechen sei in vergleichbaren Regierungen wie Deutschland etwa gleich hoch, in Italien sei der Anteil am geringsten. In Schweden liege er bei 80 Prozent.
Wertung und unlauterer Wettbewerb sind erlaubt
„Tatsache ist, dass Politiker und Politikerinnen nicht die Pflicht haben, die Wahrheit zu sagen – sie können also alles versprechen“, sagt der Wiener Rechtsanwalt Gerald Ganzger zur WZ. „Alles, was eine Wertung ist, ist ebenfalls zulässig. Sie unterliegen auch nicht dem Gesetz des unlauteren Wettbewerbs, durch den sie sich einen Vorsprung gegenüber ihrer Konkurrenz verschaffen wollen.“ Halten Politiker:innen ein Wahlversprechen nicht ein, sei das weder einklag- noch verfolgbar.
Bei kreditschädigenden Aussagen seien aber sehr wohl Sanktionen möglich, sagt Ganzger. Dazu zählen falsche Behauptungen, die den Ruf einer Person oder eines Unternehmens schädigen. Erst im Vormonat hat zum Beispiel die Landesgesundheitsagentur Niederösterreichs rechtliche Schritte gegen den SPÖ-Landesparteivorsitzenden Sven Hergovich und dessen Parteikollegen Rudolf Silvan, Nationalratsabgeordneter und Landeslistenerster für die Nationalratswahl, eingeleitet: Es geht um Ruf- und Kreditschädigung, Ehrenbeleidigung sowie Unterlassung. Grund für die Klage sind Vorwürfe Hergovichs und Silvans hinsichtlich der Situation in Niederösterreichs Kliniken.
Wahrheitspflicht nur im Zeugenstand
„Wenn Politiker:innen im Zeugenstand stehen, dann gilt aber auch für sie die Zeugen- und Wahrheitspflicht“, sagt Ganzger. Die Wahrheit: Gerade bei Politiker:innen ist Österreichs Bevölkerung offenbar gar nicht so streng, was diese betrifft. Laut Statista, einer deutschen Online-Plattform für Statistik, gaben 34 Prozent der insgesamt 500 Befragten (über 16 Jahre) an, dass in der Politik „(fast) immer“ nicht die Wahrheit gesagt werde. 37 Prozent gingen davon aus, dass das „öfter“ der Fall sei. Das Vertrauen in Soziale Medien ist demnach um einiges höher: Nur 25 Prozent haben hier gar kein Vertrauen in den Wahrheitsgehalt der Inhalte.
Es könnte also gut sein, dass die Wähler:innen bei den Wahlversprechen ohnehin nicht davon ausgehen, dass sie alle gehalten und umgesetzt werden. „Oder aber sie haben ein Kurzzeitgedächtnis. Bei der nächsten Wahl haben sie nicht eingehaltene Versprechen schon wieder vergessen“, meint Ganzger. Eine fachliche Auseinandersetzung mit den Versprechen finde im Nachhinein jedenfalls selten statt.
Die Politik- und Rechtswissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle verteidigt die Politiker:innen. „Sie sagen, was sie machen würden, wenn sie könnten“, sagt sie zur WZ. „Würden sie die Wahl mit absoluter Mehrheit gewinnen, wäre die Umsetzung ihrer Versprechen möglich – ansonsten kommt es auf die jeweilige Koalition an.“ Und genau das ist in ihren Augen das Herzstück der Demokratie. „Die Regierung ist immer ein Kompromiss. Wenn eine Partei ihre Wahlversprechen nicht einhält, führt das bei deren Wählerinnen und Wählern zu Unzufriedenheit – aber die anderen sind glücklich, dass es nicht zur Umsetzung kommt.“
Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns – sag uns deine Meinung unter [email protected]. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.
Infos und Quellen
Genese
„Die Politiker halten sich ja eh nie an das, was sie vor der Wahl versprochen haben.“ „Eine Partei hat nur in der Opposition die besten Ideen. Sobald sie in der Regierung ist, hat sie offenbar alles vergessen.“ „Ich glaub‘ gar nichts mehr, was eine Politikerin oder ein Politiker verspricht.“ Sätze wie diese hörte WZ-Redakteurin Petra Tempfer vor der Nationalratswahl mehrmals täglich von ihren Kindern, die alle drei bereits wahlberechtigt sind. „Was ist dran an deren Misstrauen – ist es berechtigt?“, fragte sie sich. Und: Wie sieht es mit der Wahrheitspflicht und Politiker:innen rein rechtlich gesehen aus?
Gesprächspartner:innen
-
Gerald Ganzger ist Rechtsanwalt und Managing Partner bei Lansky, Ganzger, Goeth & Partner Rechtsanwälte GmbH. Er ist vor allem für seine Tätigkeit als Medienanwalt, Konfliktlöser und Experte für Litigation PR bekannt.
-
Katrin Praprotnik ist Politikwissenschaftlerin am Zentrum für Gesellschaft, Wissen und Kommunikation der Universität Graz und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Strategieanalysen. Katrin Praprotnik ist auch Buchautorin und hat unter anderem folgende Bücher zum Thema Wahlversprechen verfasst:
Parteien und ihre Wahlversprechen, Einblicke in die Politikgestaltung in Österreich (2017, Verlag Springer VS, ISBN: 9783658162702)
Das politische System Österreichs (gemeinsam mit Flooh Perlot, 2022, Verlag Böhlau Wien, ISBN-10: 320521594X, ISBN-13: 978-3205215943)
-
Kathrin Stainer-Hämmerle ist Politik- und Rechtswissenschaftlerin und an der Fachhochschule Kärnten tätig. Hier hat sie die Studiengangsleitung und Professur für Public Management sowie die Professur für Politikwissenschaft inne und leitet darüber hinaus die Forschungsgruppe TRANS_SPACE, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen wie Migration, dem Verständnis von Demokratie und Bürgerbeteiligung oder Fragen der Globalisierung beschäftigt.