Carmen Possnig kennt sich mit dunklen Phasen aus. Die Astronautin hat in der Antarktis gelernt, was Kopf und Körper im Alltag brauchen, wenn die Nacht nicht mehr endet.
Am Ende der Welt wird manchmal gestritten wie in einer WG. „Wir haben abends öfters Spiele gespielt, um uns bei Laune zu halten“, erzählt Carmen Possnig im Gespräch mit der WZ. Die Kärntnerin verbrachte im Jahr 2018 zwölf Monate auf der Forschungsstation Concordia in der Antarktis. Vier Monate Dunkelheit, minus 80 Grad, völlig isoliert mit zwölf Menschen. Selbst bei einem Notfall hätte niemand evakuiert werden können. Das setzt zu. „Nach ein paar Monaten haben wir einen Eierlauf gemacht. Einem Kollegen ist das Ei auf den Boden gefallen, weggeputzt hat er es aber nicht. Da ist einer aus der Mannschaft derart ausgezuckt, dass wir schnell alles, was als Waffe geeignet gewesen wäre, weggeräumt haben“, beschreibt die 36-Jährige eine der brenzligsten Situationen während der Expedition.
Vorbereitung auf die Reise zum Mars
Possnig ist Ärztin und Reserveastronautin bei der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). In der Antarktis war sie im Auftrag der ESA, um herauszufinden, welchen Einfluss Dunkelheit und Isolation auf Körper und Psyche haben. Das Ziel: zu verstehen, wie der menschliche Organismus auf einer Reise zum Mars zurechtkommen könnte. Denn eine solche Weltraumfahrt würde 1.000 Tage dauern. In der Antarktis − nicht umsonst auch Weißer Mars genannt − machte Possnig Bluttests, simulierte Weltraumfahrten per Joystick und befragte ihre Crewmitglieder nach deren Gemütszustand. „Die Schlaflosigkeit und die Konflikte haben uns besonders zugesetzt. Einige meiner Kolleg:innen sind depressiv geworden“, sagt Possnig. Der Stress ist enorm. Auf vier Monate ohne Sonnenuntergang folgen vier Monate Dunkelheit. Depressionen, Gereiztheit, Aggression, Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit und Schlaflosigkeit sind die Folge. Dafür gibt es einen medizinischen Begriff: das antarktische Winter-Over-Syndrom. Diese Art der Belastung tritt aber nicht nur in der Antarktis auf. Der Winter etwa in Österreich sowie ein ständiges Krisengefühl können ähnliche Auswirkungen auf uns Menschen haben: 30 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an stressbedingten psychischen Erkrankungen, allein in Österreich erkranken in den dunklen Monaten mindestens 200.000 Menschen an einer Winterdepression. Wie geht man im Alltag damit um?
Reden, Sinn und Struktur
„Drei Strategien haben mir in der Antarktis geholfen, um nicht die Zuversicht zu verlieren: reden, Sinn und Struktur. Das versuche ich auch in meinem Alltag in Österreich zu leben“, sagt die Forscherin. „Mich mit Menschen auszutauschen, die mir guttun. Darüber zu reden, wenn es mir nicht gutgeht. Das war vielleicht das Wichtigste für mich.“ Auf der Concordia-Station war die Kommunikation mit der Außenwelt stark eingeschränkt. Drei Computer hatten − nicht sehr zuverlässigen − Internet-Zugang. Für das Aufrufen ihrer privaten E-Mails brauchte Possnig gut eine Stunde. Als ihre Oma Geburtstag hatte, gelang es ihr trotzdem, per Skype Glückwünsche zur Feier nach Kärnten zu schicken. „Das war sehr schön und überraschend, dass es überhaupt geklappt hat.“ Momente wie diese gaben ihr Kraft. Das ist mittlerweile wissenschaftlich belegt: Ein tragfähiges soziales Netz ist ein zentraler Faktor für psychische Widerstandsfähigkeit.
Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, war für die 36-Jährige ein weiterer wichtiger Anker: „Ich habe mich auf diese Expedition eingelassen, weil ich meiner Neugierde gefolgt bin und einen Beitrag zur Wissenschaft leisten wollte. Es gab aber auch einen Teamkollegen, der primär aus finanziellen Gründen dabei war. Für ihn wurde es immer schwieriger, durchzuhalten.“ Geld allein, so die Forscherin, sei kein guter Motivator in dunklen Phasen. „Ich habe mir selbst und meinen Kolleg:innen ein Jahr lang Blut abgenommen. Dich dafür immer wieder neu zu motivieren, schaffst du besser, wenn du einen Sinn in deiner Aufgabe siehst. Auch wenn das nicht heißt, dass es immer leicht ist.“
Das Bett als Rückzugsort
Die dritte Fähigkeit, um mit Dunkelheit und Einsamkeit umzugehen, musste sich Possnig in der Antarktis selbst erst beibringen: sich eine Struktur zu schaffen. „Ich habe in der Concordia-Station angefangen, mir einen Zeitplan für meinen Tag zu machen. Damit meine ich keine To-do-Liste, sondern klare Zeitfenster, wann ich welche Arbeiten erledige und wann ich mich erhole.“ Es habe sich gut angefühlt, am Ende der Woche zurückzublicken und etwas geschafft zu haben.
Sich eine solche Struktur anzulegen und umzusetzen, sei für die Forscherin essenziell gewesen, da es in den zwei Türmen der isolierten Station so gut wie keine Privatsphäre gab und sie bei minus 80 Grad auch nicht einfach spazieren gehen konnte. „Ich habe mir mein Bett als Rückzugsort eingerichtet und bei geschlossener Tür war klar, dass niemand stören darf.“ Tägliche Körperhygiene sei ebenfalls zentral gewesen – auch wenn es einfach gewesen wäre, sich gehen zu lassen −, zudem regelmäßige Bewegung am Laufband im „Antarktis-Gym“, gesundes Essen und nicht zu viel Bildschirmzeit. Ihr Handy habe sie aufgrund des fehlenden Empfangs ohnedies selten verwendet. Gesund zu essen sei schon schwieriger gewesen: Zwar gab es einen Koch auf der Station, die zubereiteten Nahrungsmittel kamen aber vorwiegend aus der Konserve.
Scheitern als Fähigkeit
Welche Lektionen und Strategien lassen sich also von einem Aufenthalt in der Antarktis ins alltägliche Leben mitnehmen? „Stimmungstiefs und Motivationsverluste sind normal. Auf lange Zeit gesehen hat eine Isolationssituation jedoch meistens positive Auswirkungen auf die Psyche und stärkt die Resilienz“, fasst die Medizinerin ihre Erkenntnisse zusammen. Resilienz ist die Kraft, Belastungen auszuhalten und die Zuversicht nicht zu verlieren. Dazu zählt die Resilienzforschung auch die Fähigkeit, Unterstützung anzunehmen – und sich trotz Widrigkeiten Ziele zu setzen und diese zu verfolgen.
Das bedeutet aber nicht, dass wir alles schaffen müssen. Im Gegenteil. Denn die Widerstandskraft jedes Menschen ist unterschiedlich. „Ich finde es ganz wichtig, sich selbst zu erlauben, zu scheitern“, ist Possnig überzeugt. „Mit dem NASA-Motto ‚Failure is not an option’ kann ich wenig anfangen. Es mir einzugestehen, wenn ich eine Aufgabe nicht schaffe, ist eine ganz wichtige Fähigkeit“, fährt die 36-Jährige fort und bringt ein Beispiel aus ihrer Arbeit: Beim Auswahlverfahren zur ESA-Astronautin gab es einen Abschlusstest. Für die Kandidat:innen ging es darum, die über die ganze Stadt verteilten Spieler einer Fußballmannschaft rechtzeitig für ein Spiel auf einem Platz zusammenzubringen. Der Trick? Es war zeitlich gar nicht möglich, die Aufgabe zu schaffen. „Ich dachte, das sei ein Logiktest. In Wahrheit wurde getestet, wie jede:r einzelne und wir als Team damit umgehen, wenn wir scheitern. Das Ziel war, Lösungen zu suchen und sich am Ende trotzdem einzugestehen, dass es sich nicht ausgeht.“
Eine gute Erkenntnis − egal ob im Winter in Österreich oder in der antarktischen Dunkelheit. Um jeden Preis durchzuhalten, kann nicht das Ziel sein. In Österreich − und das ist der Unterschied zur Antarktis – gibt es psychologische und medizinische Anlaufstellen, um eine Winterdepression zu behandeln. Niemand sollte hierzulande allein durch dunkle Phasen gehen müssen.
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Infos und Quellen
Genese
Während der dunklen Jahreszeit sind Menschen besonders gefährdet, an Depressionen zu erkranken. Carmen Possnig hat als Forscherin in der Antarktis vier Monate lang die Sonne nicht gesehen. Der freie Journalist Stephan Wabl hat die Medizinerin gefragt, was sie aus dieser Zeit für den Umgang mit Dunkelheit und Einsamkeit gelernt hat.
Gesprächspartnerin
Carmen Possnig, 1988 in Klagenfurt geboren, ist Ärztin und seit 2022 Reserveastronautin bei der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), nachdem sie das Auswahlverfahren mit rund 22.500 Bewerber:innen erfolgreich absolvierte. Von November 2017 bis November 2018 war sie Forscherin in der Concordia-Station in Antarktika. Den antarktischen Winter von Februar bis November 2018 verbrachten sie und ihre zwölf Crewmitglieder in völliger Isolation. Über ihre Expedition hat sie das Buch „Südlich vom Ende der Welt: Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat − Mein Jahr in der Antarktis“ veröffentlicht (Ludwig Verlag, München 2020). Neben ihrer Arbeit ist sie seit 2020 Doktorandin im Fach Weltraummedizin an der Universität Innsbruck. Sollte Possnig demnächst für einen Flug ins All ausgewählt werden, wäre sie die erste deutschsprachige Frau im Weltraum. Im Jänner 2025 beginnt sie das Ausbildungsprogramm am europäischen Astronautenzentrum (EAC) in Köln.
Daten und Fakten
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Die Forschungsstation Station Dome Concordia ist eine von rund 40 ganzjährig betriebenen Forschungsstationen in der Antarktis. Sie ist 1500 m2 groß, liegt 3.233 Meter über Meereshöhe und zirka 1.000 Kilometer von der nächsten Küste entfernt. Da die Concordia in so großer Höhe liegt, ist die Luft im Umfeld der Station sehr dünn und enthält weniger Sauerstoff. Die Lage ähnelt in vielerlei Hinsicht der Umgebung bei einem Flug ins All.
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Possnigs dreizehnköpfige Wintercrew bestand neben ihr als Medizinerin aus Astronomen, Gletscherforschern, Seismologen, einem Meteorologen sowie Technikern wie einem Installateur, Elektriker, einem Mechaniker und einem Koch. Die Teams in der Concordia-Station bestehen überwiegend aus Männern. Neben Possnig war in ihrer Crew nur eine weitere Frau.
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Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat 22 Mitglieder, wurde 1975 gegründet und bündelt die Entwicklung der europäischen Raumfahrt. Die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA (National Aeronautics and Space Administration) gibt es seit 1958.
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Das in der Antarktis auftretende Winter-Over-Syndrom ist einer Winterdepression in Europa nicht unähnlich. In Österreich leiden jährlich mindestens 200.000 Menschen an einer Winterdepression. Frauen erkranken dreimal häufiger als Männer. Ausreichend Schlaf, Bewegung in der Natur, Licht und gute soziale Kontakte helfen im Umgang mit der Krankheit Zusätzlich kann die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D hilfreich sein.
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Das Wiener AKH hat eine eigene Ambulanz für Winterdepression. Hier kommen häufig Lichttherapie oder medikamentöse Therapien zum Einsatz.