Einen Sprung raus aus Amsterdam, weg von den holländischen Kanälen und schmalen Ziegelsteinhäusern, stehen nur leblose, graue Gebäude. Kaum ein:e Fahrradfahrer:in tritt hier in die Pedale, nur wenige Autos kommen vorbei. Mitten in einem kleinen Industrie-Dschungel hat die Moscow Times ihr neues Zuhause gefunden. Wo genau? Das muss aus Sicherheitsgründen ein Geheimnis bleiben.
Alexander Gubsky kommt die Treppe herunter, ein Russe mit kurzem, dunklen Haar und eckiger Brille. „Okay, komm hoch“, sagt er mit strengem Blick. Er hat nicht viel Zeit, Februar ist hier stressiger als die anderen Monate.
Der 56-jährige Herausgeber der Moscow Times ist in Moskau geboren und hat dort Journalismus studiert. Gubsky ist belesen, im Gespräch bezieht er sich häufig auf Beispiele aus der Geschichte. Sein Interesse für Kunst zeigt sich an den aufgehängten Bildern im Büro.
Gegründet wurde seine Zeitung 1992 als englischsprachiges Blatt für Expats und andere internationale Einwohner:innen Russlands von dem niederländischen Unternehmer Derk Sauer. Seit 2020 werden auch Nachrichten auf Russisch publiziert.
„Es hieß entweder Gefängnis oder Exil“
Mit dem Überfall auf die Ukraine verschärften sich in Russland die Mediengesetze. Ein letzter Vorstoß im Kampf gegen die Meinungs- und Pressefreiheit.
Wer über die Ukraine berichtet, darf statt Krieg nur noch von einer „Spezial-Militäroperation“ sprechen. Regimekritik ist sowieso tabu. Wer sich nicht daran hält, muss zahlen und landet im schlimmsten Fall sogar im Gefängnis.
„Für uns hieß es entweder ins Gefängnis zu gehen oder aus Russland zu fliehen und im Exil zu arbeiten. Wir hatten praktisch keine Wahl“, sagt Gubsky. Im Juli 2024 klassifizierte der Kreml die Zeitung als „unerwünschte Organisation“. Davor wurden die Mitarbeiter:innen schon auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. Also übersetzt: Feinde des Kremls und damit unerwünscht. Jede Art von Zusammenarbeit oder Spende an sie ist eine Straftat. Nicht einmal mehr für Umfragen können sie die Menschen auf der Straße interviewen.
Der Standortwechsel nach Amsterdam veränderte die Moscow Times zusätzlich. Erreichte sie davor ein überwiegend englischsprachiges Publikum, ging es jetzt auch darum, russischsprachige Leser:innen über die Realitäten in der Ukraine zu informieren und Putins Propaganda entgegenzuwirken.
Heute zählt ihr russischsprachiger Telegram-Kanal über 107.000 Abonnent:innen und ist damit der zweitgrößte Kanal eines unabhängigen russischen Mediums. Finanziell ist es ein Bangen: Ein Viertel des Budgets kommt aus eigenen Einnahmen und Spenden, der Rest von internationalen Stiftungen und Unternehmen.
In ihren Beiträgen zitieren die Moscow Times oft Insider aus dem Kreml. Ihre ausführliche Berichterstattung über die ethnischen Minderheiten in Russland setzt sie von anderen Medien ab. Etwas, worauf die Redaktion stolz ist.
Putins Propaganda ist heute salonfähig
Putins Propaganda beschäftigt die Journalist:innen hier aber am meisten. „Das Regime ist in seiner Propaganda sehr gut geworden. Immerhin machen sie das schon seit 25 Jahren“, kommentiert Gubsky.
Vor allem die Auswirkung auf die normalen Bürger:innen Russlands machen ihm Sorgen. „Sie machen die Menschen zu Zynikern. Die Logik des Kreml ist eigentlich einfach: ‚Okay, ja, wir lügen, aber alle anderen lügen auch. Deswegen darfst du niemandem vertrauen, glaube nichts.‘ Das ist die Message.“
Wie leicht vor allem Politiker:innen heute in die Falle der russischen Propaganda tappen, beobachtet er schon lange. Als der neue US-Präsident Donald Trump vor kurzem behauptete, die Ukraine trage die Schuld für die russische Invasion, war wohl ein Höhepunkt erreicht.
Krieg ist für Putin ein absolut natürlicher Zustand.
Alexander Gubsky, Journalist und Herausgeber der Moscow Times
Es ist das klassische Propaganda-Muster, meint Gubsky. Nur, was dagegen tun? Auch in Europa folgen viele rechtsextreme Politiker:innen dieser Logik. „Politiker müssen die Tatsache akzeptieren, dass dies ein europäischer Krieg ist und dass Europa Teil dieses Krieges ist“, so Gubsky.
Auch die derzeit geplanten Verhandlungen zwischen den USA und Russland sind Thema in der Redaktion. „Krieg ist für Putin ein absolut natürlicher Zustand. Sein Regime kann nur überleben, wenn es in irgendeiner Art von Krise oder Krieg ist“, weiß er. Mit jemandem wie Putin sei nicht zu verhandeln, „weil er niemals tun wird, was er sagt.“
Angst und Albträume
Doch die Moscow Times berichtet nicht nur aus dem Amsterdamer Gewerbeviertel, sie hat nach wie vor Reporter:innen vor Ort. Wie zum Beispiel Ivan. Der Journalist lebt weiterhin in Russland und glaubt daran, dass die Lage nicht vollkommen hoffnungslos ist. Meine Fragen erreichen ihn über einen gesicherten Chatroom und das nur unter einem Pseudonym.
Die Angst, festgenommen zu werden, ist immer da, schreibt er. Aber der Drang, aus Russland zu berichten, ist größer. „Früher hatte ich panische Angst. Ich wachte oft mitten in der Nacht auf und hatte Albträume, dass die Polizei in mein Haus einbricht“, gesteht Ivan. Zwischen den Zeilen liest sich aber ein eher positiver Ton heraus.
Irgendwann wurde es besser. Er hebt vor allem das Begräbnis von Aleksei Navalny vor einem Jahr hervor. Zehntausende trauernde Menschen skandierten entschieden ‚Nein zum Krieg‘ und erwiesen dem Oppositionspolitiker die letzte Ehre. Dabeizusein und von dort zu berichten, hatte für Ivan eine „therapeutische Wirkung“. Es habe ihm gezeigt, dass ein anderes Russland vielleicht doch möglich ist.
Flucht ist für Ivan keine Option. Er möchte verstehen, was passiert, und findet, dass das aus dem Exil nicht immer möglich ist. Dafür nimmt er in Kauf, in Angst zu leben. Immer einen Blick über die Schulter zu werfen.
Keine Hoffnung zurückzukehren
Das Redaktionsgeschehen im Exil versucht Samantha Berkhead zu koordinieren. Die Chefredakteurin hat auf ihrem Schreibtisch ganz am Ende des Büros nur ein paar ausgedruckte Presseaussendungen und ihren Laptop liegen. Mit ihrem New Yorker Akzent fließt die US-Amerikanerin zwar müde durchs Gespräch, bleibt aber trotzdem klar in ihren Antworten.
Schon in der Schule ist sie von Russland fasziniert. Im Februar 2019 ging es nach Moskau. Große Hoffnungen in die russische Hauptstadt zurückzukehren, hat sie nicht.
„Wir haben mittlerweile akzeptieren müssen, dass wir so bald nicht nach Moskau zurückkehren werden“, sagt sie fast resigniert. Jetzt ginge es darum, dafür zu sorgen, dass unabhängige Nachrichten die Menschen in Russland erreichen.
Millionenpublikum aus dem Exil
Derzeit arbeiten laut einem Bericht des JX-Fund, einem Fonds für Journalismus im Exil, mindestens 93 russische Medien aus dem Exil, verstreut in etwa 30 Ländern. Die meisten davon sind heute in Litauen, Lettland oder in Polen.
Insgesamt sollen die aus dem Ausland arbeitenden Medien jeden Monat über 160 Millionen Menschen über YouTube erreichen und 38 Millionen Klicks auf ihren Websites generieren.
YouTube wurde vom russischen Staat bisher nicht blockiert und ist relativ leicht zugänglich, weshalb es schnelle Zuwächse erreicht hat. Damit sie ihre Arbeit machen können, unterstützt die NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) Exil-Medien mit Umzügen, der Beschaffung neuer Ausrüstung oder administrativen Tätigkeiten.
Am wichtigsten sind sogenannte „Mirror-Sites“, also Kopien von originalen Websites, die auf RSF-Servern gehostet werden. Wenn die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadzor wieder mal ein Medium sperrt, kann innerhalb von Minuten eine neue Kopie online gestellt werden.
Mit dem russischen Geheimdienst ist es ein Katz-und-Maus-Spiel.
Jeanne Cavelier, Büroleitung Osteuropa und Zentralasien für Reporter ohne Grenzen
Dadurch kommen die Menschen in Russland auch via VPN-Verbindung weiterhin an unabhängige Nachrichten. „Mit dem russischen Geheimdienst ist es ein Katz-und-Maus-Spiel. Jedes Mal, wenn wir eine neue Mirror-Site erstellen, versuchen sie, die Seite so schnell wie möglich zu blockieren“, sagt Jeanne Cavelier von RSF zur WZ.
Für Exilmedien wie die Moscow Times bleibt es weiterhin ein harter Kampf. Das weiß auch Gubsky. Ein Ende sieht er in naher Zukunft nicht, er denkt entschlossen an die nächsten Jahre.
Außerdem ist Exil für Russen nichts Neues, erinnert er. Sowohl im russischen Reich als auch in der Sowjetunion war es gängige Praxis, politische Gegner:innen ins Ausland auszuweisen.
Von seinem Sessel aus blickt Gubsky auf ein Bild von Wladimir Lenin. Darunter steht in kyrillischer Schrift: „Meine Seele ist bei euch, aber leider ist mein Körper in Zürich.“
Der Vater der russischen Revolution verbrachte die Hälfte seines Erwachsenenlebens im Exil – ein Grundgefühl der Unsicherheit, mit dem sich Gubsky identifizieren kann. Aber irgendwann saß auch Lenin im Zug zurück.
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Infos und Quellen
Genese
Die Moscow Times muss seit 2022 aus dem Exil in Amsterdam arbeiten: unter ständigem Druck, mit hohem Sicherheitsrisiko für sich und immer um Finanzierung kämpfend. Sie erreichen trotzdem ein großes Publikum und wachsen auf allen Plattformen. Der Autor hat die Redaktion besucht und mit ihnen über ihre Arbeit, Ängste und Perspektiven für die Zukunft gesprochen.
Daten und Fakten
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Im März 2022 zog die Moscow Times als Antwort auf die neuen Mediengesetze, die die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine massiv einschränken, aus der russischen Hauptstadt nach Amsterdam.
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Ein Report des JX Fund (Europäischer Fonds für Journalismus im Exil) vom November 2023 zählt mindestens 93 unabhängige russische Medien, die aus dem Ausland arbeiten. Sie schätzen, dass es zwischen 1.500 und 1.800 Medienschaffende in 30 Ländern gibt.
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261 Personen und Organisationen werden vom Kreml als “ausländische Agenten” und “unerwünschte Organisationen” geführt.
Gesprächspartner:innen
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Alexander Gubsky, Journalist und Herausgeber der Moscow Times
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Samantha Berkhead, Chefredakteurin der Moscow Times
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Jeanne Cevalier, Büroleitung Osteuropa und Zentralasien für Reporter ohne Grenzen (RSF)
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Ivan, freier Journalist für die Moscow Times. Der Name wurde von der Redaktion geändert