In Europa wird so viel gekokst wie noch nie. Kokain ist nach Cannabis die am meisten konsumierte illegale Droge. Zwar gibt es regionale Unterschiede, doch über den gesamten Kontinent gesehen nimmt der Konsum immer weiter zu. An erster Stelle aller europäischen Städte: Antwerpen.
Ich stehe vor dem schwarzen Zollgebäude am Hafen von Antwerpen. Hierherzufinden war gar nicht so leicht. Denn der Hafen von Antwerpen ist wie eine eigene Stadt neben der eigentlichen Stadt. Seine Fläche ist in etwa so groß wie die von Graz. Sich hier zurechtzufinden ist schwer. Google Maps kennt nicht alle Straßen.
Im größten Kokain-Hafen Europas
Der Empfangsraum im Gebäude erinnert an ein Wartezimmer beim Arzt. Vier Stühle stehen an der Wand. Sara Van Cotthem begrüßt mich freundlich. Sie leitet für den belgischen Zoll die Kommunikation am Hafen von Antwerpen. Heute zeigt sie mir, wie der Zoll versucht, Kokain aus Lateinamerika vor der Einreise nach Antwerpen zu stoppen. Denn in Antwerpen wird nicht nur am meisten gekokst, sondern der Hafen ist auch der größte Kokain-Importhafen Europas.
Rund 40 Prozent des Kokains in Europa kommen über den Hafen von Antwerpen. 116 Tonnen der Droge wurden allein im vergangenen Jahr beschlagnahmt. Auf die österreichische Bevölkerung aufgeteilt, wären das etwa 13 Gramm pro Kopf. Auf den Straßen Wiens würde man dafür rund 1.000 Euro bekommen.
Bevor die Tour am Hafen startet, erklärt Van Cotthem noch einmal die Regeln: „Keine Fotos von Mitarbeiter:innen. Nicht mal von ihren Händen. Sie dürfen nicht in der Öffentlichkeit stehen, weil kriminelle Banden sie ständig für ihre Drogengeschäfte gewinnen möchten.“ Denn ohne „Insider“ bekommen Kriminelle das Kokain nicht aus dem Hafen raus.
Besonders wichtig für den Drogenschmuggel sind die Kranfahrer:innen. Sie müssen die Container dort abstellen, wo sie von den Banden wieder geleert werden können – das macht man sich untereinander aus, damit es möglichst unauffällig passieren kann. Ein Kranfahrer am Hafen erzählt einem belgischen Medium anonym von Angeboten bis zu 200.000 Euro. Vier Jahresgehälter für nicht einmal zehn Minuten Arbeit.
Gewaltandrohungen sind üblich
Die Banden setzen die Hafenarbeiter:innen aber auch unter Druck. „Bandenmitglieder zeigen Mitarbeitenden Fotos von ihrem Zuhause und ihrer Familie und drohen ihnen mit Gewalt“, sagt An Berger von der Föderalen Polizei Antwerpen. Im vergangenen Jahr musste die Hafenpolizei 150 Menschen wegen drogenbezogener Aktivitäten festnehmen. Darunter auch mehrere Mitarbeiter:innen des Hafens und Polizist:innen.
Daher wird versucht, die Hafenmitarbeiter:innen anonym zu halten. Keine Jobangabe in den Sozialen Medien. Kein Tragen der Arbeitskleidung außerhalb der Arbeitszeit. Keine Fotos von den Personen bei meinem Besuch.
Nach der Anweisung geht es los. Erster Stopp: Ein Scan der Ware auf einem großen Betonplatz hinter dem Gebäude. Mit Containern beladene Lkws stehen in einer Reihe. Einer nach dem anderen. Sie warten darauf, durch einen Metallbogen zu fahren. „Bei der Durchfahrt entsteht ein Röntgenbild. Spezialist:innen analysieren die Bilder und entscheiden, ob eine händische Kontrolle notwendig ist. Das ist gar nicht so einfach. Später zeige ich dir das“, sagt Van Cotthem.
Wir gehen an den Lkws vorbei zu einem langen, flachen Gebäude. Wieder die gleiche schwarze Kunststofffassade. Innen sieht es aus wie in einer Lagerhalle. Auf der einen Seite hängen Stofftiere, Regenschirme und Flip-Flops. „Das ist unsere Sammlung gefälschter Markenartikel. Die aus dem Verkehr zu ziehen, gehört auch zu unseren Aufgaben“, sagt Van Cotthem.
Kuscheldecken aus China statt Kokain
Auf der anderen Seite: Ein weißes Garagentor neben dem anderen. Eines davon geht auf. Ein grüner Container steht dahinter. Ein Hafenmitarbeiter trennt einen grünen Stift an der Containertür mit dem Bolzenschneider durch. „Das ist eine Zollplombe. Sie schützt den Container davor, von anderen geöffnet zu werden“, sagt Van Cotthem. Der Mitarbeiter öffnet die rechte Tür. Kartonkisten. Eng neben- und übereinander gestapelt. Eine nimmt er heraus, stellt sie auf einen Tisch und schneidet sie mit einem Stanley-Messer auf.
„Das hier ist ein Container aus China, der mit Decken für Kinder gefüllt ist“, erklärt Van Cotthem. Der Mann holt eine davon heraus. Grauer Plüsch mit weißen Sternen. Eine lächelnde Maus ist auf die Decken genäht. „Hier machen wir in erster Linie eine Qualitätskontrolle der Ware“, sagt Van Cotthem. Der Mann prüft den eingenähten Zettel. Dann steckt er die Decke zurück in den offenen Karton. Mit einem Klebeband schließt er die Kiste wieder und bringt sie zurück in den Container.
Kreative Schmuggler
Van Cotthem holt ihren Laptop aus ihrem Büro nebenan. Sie stellt ihn auf den Tisch und klappt ihn auf. In einer Powerpoint-Präsentation zeigt sie mir ein paar Kokain-Funde. Jegliche Hohlräume werden als Versteck für die Drogen verwendet, zum Beispiel doppelte Wände von Kühlcontainern oder die Verkleidung von Autotüren. „Die Schmuggler sind durchaus kreativ“, sagt Van Cotthem lächelnd und geht noch einmal kurz in ihr Büro.
Sie kommt mit einer Banane in der Hand zurück. „Diese Bananen wurden mit Kokain befüllt und unter richtige Bananen gemischt“, sagt Van Cotthem. Sie wirkt leicht amüsiert von der Banane, die sie mir zur Begutachtung in die Hand drückt. Plastik. Während ich die täuschend echt aussehende Banane noch in meiner Hand hin und her drehe, geht die Präsentation schon weiter.
Auf dem Laptop ist ein schwarz-weißes Röntgenbild eines beladenen Lkws zu sehen. „Teakholz aus Ecuador. Was fällt dir hier auf?“, fragt Van Cotthem. Ich kann keine Auffälligkeiten erkennen. Doch bevor ich antworten kann, klärt sie mich mit einem Video auf: Die Holzstämme wurden ausgehöhlt und mit Kokain-Päckchen vollgestopft.
Verstecktes Kokain zu finden ist also gar nicht so leicht. Der Besuch am Hafen zeigt, wie aufwendig die Kontrolle ist. Von den über zehn Millionen Containern, die in Antwerpen jährlich ein und aus gehen, können unmöglich alle kontrolliert werden.
„Solang die Nachfrage nach Kokain in Europa so hoch ist, finden Kriminelle Wege, die Drogen von Lateinamerika nach Europa zu schmuggeln“, sagt der Direktor des belgischen Zolls, Kristian Vanderwaeren, im Interview mit der WZ. „Die Menschen müssen weniger Kokain konsumieren. Wenn die Nachfrage sinkt, geht auch der Import von Kokain zurück“, sagt Vanderwaeren.
Nirgendwo in Europa wird so viel Kokain konsumiert wie in Antwerpen. Doch auf den Straßen der Stadt bekomme ich davon nichts mit. Antwerpen ist geprägt von breiten, roten Radwegen. Ein Fahrrad nach dem anderen. Menschen drängen sich durch die Gassen zwischen alten barocken Gebäuden, die sich mit moderner Architektur mischen.
Kokain ist allgegenwärtig
Erst in Gesprächen zeigt sich, wie allgegenwärtig Kokain in Antwerpen ist: Die Barmitarbeiterin erzählt von auf dem Bartresen koksenden Gästen. Der Sportlehrer von Säckchen mit weißem Pulver, die er bei seinen Schüler:innen findet.
„Kokain ist in Antwerpen leichter zu bekommen als eine Pizza“, sagt Helene Key, Leiterin der privaten Suchtberatungsstelle „SolutionS“ im Stadtzentrum von Antwerpen. Seit zwölf Jahren arbeitet sie in der Suchtberatung. Die Entwicklungen der letzten Jahre machen ihr Sorgen. „Früher sind noch mehr Menschen wegen Cannabis und Alkohol gekommen. Mittlerweile sind rund 70 Prozent unserer Klient:innen wegen Kokain hier.“
Kokain ist in Antwerpen leichter zu bekommen als eine Pizza.
Helene Key, Suchtexpertin
Das Kokain-Business in Europa wird auf rund zehn Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Viele wollen ein Stück vom Kuchen, doch nicht alle wollen teilen. Das führt zu Auseinandersetzungen krimineller Banden, die auf offener Straße ausgetragen werden. Allein 2023 gab es 71 Vorfälle von Gewalt im Zusammenhang mit Drogen in Antwerpen.
Der bislang tragischste Fall passiert im Jänner 2023. Eine 11-Jährige wird erschossen. Sie spielt hinter einem Garagentor, das von drei Kugeln durchlöchert wird. Sie war die Nichte eines im Drogengeschäft tätigen Mannes. Der Fall schockt das ganze Land.
Belgien will Bekämpfungsvorreiter sein
Die belgische Regierung schafft daraufhin einen neuen Posten: eine nationale Drogenbeauftragte. Die ehemalige Staatsanwältin Ine Van Wymersch wird diese Stelle bis 2028 besetzen. Einen Tag nach meinem Besuch am Hafen von Antwerpen rufe ich sie an.
„Wir müssen die illegale Welt und die legale Welt getrennt halten“, sagt Van Wymersch. Ihre größte Sorge ist es, dass die Banden ihre Leute in wichtige Positionen bringen. Denn dann drohen Zustände wie in lateinamerikanischen Staaten. „Das müssen wir um jeden Preis verhindern“, sagt Van Wymersch.
Lateinamerikanische Zustände müssen um jeden Preis verhindert werden.
Ine Van Wymersch, Nationale Drogenbeauftragte
Ich frage sie nach ihren Zielen als erste belgische Drogenbeauftragte: „Eine Welt ohne Drogen gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit. Ich glaube aber fest daran, dass wir das Business-Modell der organisierten Kriminalität bekämpfen können.“ Dafür entscheidend sei die internationale Kooperation. „In Europa sind alle aufgewacht und arbeiten aktiv an einer Lösung für das Problem mit“, sagt Van Wymersch zuversichtlich. Daher blickt ganz Europa nach Antwerpen, dem Brennpunkt für Europas Kokain-Problem.
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Infos und Quellen
Dieser Beitrag ist im Rahmen von „eurotours2024“ (Projekt des Bundeskanzleramtes, finanziert aus Bundesmitteln) entstanden.
Genese
Kokain boomt in Europa: Noch nie wurde auf dem europäischen Kontinent so viel gekokst wie heute. Europas Kokain-Hochburg ist die belgische Hafenstadt Antwerpen. WZ-Trainee Markus Hagspiel ist mit der Unterstützung von „eurotours2024“ nach Antwerpen gereist, um sich die Situation vor Ort genauer anzusehen.
Gesprächspartner:innen
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Sara Van Cotthem, Leiterin Kommunikation für den belgischen Zoll am Hafen von Antwerpen
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Kristian Vanderwaeren, Leiter des belgischen Zolls
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An Berger, Sprecherin der föderalen Polizei Belgiens
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Ine Van Wymersch, erste nationale Drogenbeauftragte von Belgien
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Helene Key, Managerin der Suchtberatungsstelle „SolutionS“
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Thomas Pietschmann, leitender Forscher bei United Nations Office on Drugs and Crime (UNDC)
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Bob Van Den Berghe, Experte für Strafverfolgung und Leiter des Cargo Border Teams der UNDC
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João Pedro Matias, Wissenschaftlicher Analyst European Union Drugs Agency (EUDA)
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Johan Vermant, Sprecher des Bürgermeisters von Antwerpen
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Bewohner:innen von Antwerpen
Daten und Fakten
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Antwerpen ist der größte Kokain-Importhafen Europas. 40 Prozent des beschlagnahmten Kokains in Europa kommen aus Belgien, das allermeiste davon aus Antwerpen. 2013 wurden in Antwerpen lediglich 4,7 Tonnen beschlagnahmt, 2023 bereits 116 Tonnen.
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UNDC-Experte Pietschmann geht davon aus, dass in etwa 40 bis 50 Prozent der gesamten Menge mittlerweile beschlagnahmt werden. In anderen Medien ist oft von lediglich 10 bis 20 Prozent die Rede.
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Das Kokain kommt aus Lateinamerika. Das meiste wird in Kolumbien und Ecuador hergestellt. 350.000 bis 400.000 Container kommen pro Jahr aus Lateinamerika in den Hafen von Antwerpen. Der Fokus der Kontrollen liegt auf diesen Containern. Es können aber lediglich ein bis zwei Prozent aller Container in Antwerpen kontrolliert werden. 2023 wurden daher rund 35.000 Container kontrolliert. 2024 sollen es bereits 50.000 sein. Möglichst bald will der Zoll am Hafen von Antwerpen alle Container aus Lateinamerika kontrollieren.
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In ganz Europa wird immer mehr Kokain konsumiert. Bemessen wird das über die Rückstände im Abwasser europäischer Städte. Antwerpen liegt in Europa an erster Stelle. Wien liegt im Mittelfeld, auch wenn der Konsum in der österreichischen Hauptstadt im letzten Jahr um 20 Prozent gestiegen ist. An erster Stelle im nationalen Ranking liegt Kufstein. Die österreichische Polizei konnte 2023 außerdem 154 Kilogramm Kokain in Österreich sicherstellen.
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In Kolumbien kostet ein Kilo Kokain rund 2.000 US-Dollar. In Europa kostet es das 15- bis 20-Fache. So können beim Kokain-Schmuggel und Verkauf viele Menschen mitverdienen. Der europäische Kokainmarkt wird auf jährlich zehn Milliarden Euro geschätzt.